Archive for Mai, 2009


Relative Intelligenz

Computer sind (noch) nicht intelligent. Aber sie sind jetzt schon um einiges intelligenter als jene Menschen, die sie jetzt schon für intelligent halten.

SPD: Die Angstpartei

Vermutlich hat so ziemlich jeder Fühlende und Denkende schon über die aktuelle Wahlwerbung der SPD den Kopf geschüttelt. In monströser Größe werden Bilder aufgestellt, die vor allem die Aufgabe haben, den politischen Mitbewerb zu verunglimpfen.

Heiße Luft würde die Linke wählen

Die „Linke“ (übrigens ein gnadenlos dummer Name für eine poltische Partei, wenn sie sich nur über die Sitzordnung im Parlament benennt, ohne damit eine inhaltliche Position einzunehmen — aber das passt ja gut in den gegenwärtigen Politikbetrieb) ist also vor allem „heiße Luft“. Und die SPD will für „Verantwortung“ stehen, aber übernimmt nicht einmal die Verantwortung für den unter der Regierung Schröder / Fischer angerichteten sozialen Kahlschlag in der BR Deutschland.

Finanzhaie würden FDP wählen

Und völlig klar, die FDP ist nicht nur die für zu bedeutend gehaltene Splitterpartei für die Interessen der Apotheker (und hat der Idee des Liberalismus in der BR Deutschland in dieser Rolle einen so nachhaltigen Schaden zugefügt, dass diese Idee wohl für viele Jahrzehnte tot ist), sondern eine richtige Vertretung der Haie, die nach den Finanzen und den Leben der Menschen happsen. Dass keine mit FDP-Beteiligung zustande gekommene Regierung der BR Deutschland eine so weit gehende „Deregulierung“ und staatliche Unterstützung der totalen und totalitären Verwirtschaftung des gesamten menschlichen Lebens und Schaffens etabliert hat wie die Regierung Schröder und Fischer, das soll der Betrachter dieser Plakate wohl vergessen haben.

Dumpinglöhne würden CDU wählen

Und genau in der gleichen Weise soll der Betrachter der dummen Plakate vergessen haben, dass unter einer SPD-geführten Regierung ein staatlich subventionierter Elendsarbeitsmarkt in der BR Deutschland etabliert wurde, in dem die Menschen zu bloßen Fällen reduziert wurden und unter Androhung der völligen Verarmung, Obdachlosigkeit und des Hungers zu unterbezahlter Quasizwangsarbeit verpflichtet wurden — dies nannte man zum Hohn auch noch „Sozialpolitik“. In der Folge dieser asozialen Sozialpolitk leben heute viele Menschen in Deutschland trotz eines vollen Arbeitstages unter der Bedingung einer empörenden Armut.

Aber alles das soll vergessen gemacht werden. Und die Strategen dieser ehemaligen Volkspartei haben auch ein gutes Rezept gefunden, wie man Menschen zum Vergessen bringt, nämlich, indem man ihnen Angst macht. Denn das weiß jeder Demagoge: Unter Angst ist selbst die elementarste Verstandesleistung, selbst so etwas wie ein schlichtes Sich-Erinnern, für die meisten Menschen nicht mehr zu erbringen. An die Stelle einer glaubwürdigen und für einen Denkenden ernst zu nehmenden Argumentation ist die pure Verbreitung von Angst vor dem „politischen Mitbewerb“ getreten.

Angesichts dieser Monströsität und dieses offenen Spieles mit Lüge und Angst könnte man leicht denken, dass hier eine neue Dimension erreicht wäre. Das ist aber nicht der Fall, denn schon im Bundestagswahlkampf 2005 hat die SPD in ihrer Reklame versucht, eine vernünftige Entscheidung des Wählers zu unterdrücken, indem Angst vor den politischen Alternativen geweckt wurde. Der einzige Unterschied zur jetzigen, auf reine Polarisation und Verunglimpfung des politischen Gegners ausgrichteten Schmutzkampagne besteht darin, dass man im Jahr 2005 noch gescheut hat, den jeweilgen Mitbewerb beim Namen zu nennen. Stattdessen sprachen die Werber im Auftrage der ehemaligen Volkspartei SPD einfach nur von „den Anderen“ (was wohl durchaus beabsichtigt an die plumpesten Reden im Bierdunst der Stammtische appellieren sollte), vor denen die Wähler doch gefälligst Angst haben sollten. Das sah in monströser Plakatform denn so aus:

Wir stehen für den Kündigungsschutz. Aber wofür stehen die Anderen?

Wir stehen für den Mut zum Frieden. Aber wofür stehen die anderen?

Schon im Jahr 2005 sollte die pure Angst vor „den anderen“ jeden Gedanken daran im Entstehen hindern, dass unter einer SPD-geführten Regierung der Kündigungsschutz durch die Einführung einer zweijährigen Probezeit (bei gleichzeitigem Rückbau finanzieller Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit) zur Bedeutungslosigkeit verwässert wurde und dass eine SPD-geführte Regierung unter Frieden vor allem militärische Abenteuer der Bundeswehr hart am Rand des Grundgesetzes zu verstehen schien.

Die SPD der Nuller Jahre ist vor allem eine Partei der Angst. Die Wahlwerbungen der SPD setzen eine Angstbereitschaft bei potenziellen Wählern voraus, und sie tun alles, um diese Bereitschaft in reale Angst vor möglichen Alternativen zur SPD zu verwandeln. Da die SPD nicht mehr wegen einer politschen Absicht gewählt werden soll, die etwas mit den Bedürfnissen der Wähler zu tun hat, kann neben der erstrangigen Absicht der bloßen Angstvermittlung beliebig gelogen werden. Und. Von dieser Möglichkeit machen die Kampagnen auch breiten Gebrauch, damals 2005 zur Bundestagswahl und heute 2009 zur Europawahl.

Natürlich muss dieses Spiel mit der gehetzten Psyche verdeckt gespielt werden. Ein offenes und die werbende Absicht nicht verbergendes „Angst würde SPD wählen“ dränge in seiner Zielrichtung sofort in das Bewusstsein, würde dort erkannt werden und führte in Plakatform bestenfalls zu Ausbrüchen der spontanen Heiterkeit. Die gewiss hoch bezahlten Werber, die im Auftrage der SPD jetzt schon seit einigen Jahren solche Kampagnen entwerfen, wollen eine Angst, die kein Bewusstsein aufkommen lässt. Und darin. Zeigt sich die innere Nähe der SPD (oder zumindest derjenigen lichtscheuen Gestalten in der SPD, die eine solche Ausrichtung wünschen) zur Verfasstheit jener totalitärer Regimes, die sich vor allem durch die mit allen Mitteln erhaltene Angst der Bevölkerung an der Macht erhalten; ja, darin zeigt sich der undemokratische Charakter derer, die sogestalt für sich werben lassen. Und dieser. Fügt sich recht nahtlos in das totalitäre Verständnis der SPD-Führung, dass Menschen ihr gesamtes Leben abstrakten wirtschaftlichen „Sachzwängen“ unterordnen sollen.

Eine deutlichere Empfehlung, diese Partei wenigstens so lange nicht zu wählen, bis sie sich von ihrer gegenwärtigen Führung und der von diesem lichtscheuen Gesindel angestrebten Angstherrschaft befreit und sich innerlich erneuert hat, könnte gar nicht mehr ausgesprochen werden. Die Alternativen gibt es ja, es sind jene, vor denen Angst gemacht werden soll — auch jene, die in den verachtenswerten Kampagnen nicht namentlich genannt werden.

Die Wahlkämpfer

Wer die Menschen erfolgreich betrügen will, der muss sich mit allen verfügbaren Mitteln darum bemühen, dass ihnen das Absurde glaubhaft erscheint.

Von der Mutter gezeichnet

Ich kann den Eindruck einfach nicht abschütteln, dass der wichtigste Grund für den großen wirtschaftlichen Erfolg und anhaltenden, zeitlos anmutenden Kultstatus der Disney-Filme in im europäischen und US-amerikanischen Kulturkreis darin liegt, dass in beinahe jedem dieser abendfüllenden Zeichentrickfilme vom Fließband für synthetische Träume entweder zum Beginn des Hauptstranges der Handlung die Mutter des infantil gehaltenen Hauptdarstellers (oft grausam und gewaltsam) stirbt, dass sie schon vor Beginn der Handlung tot ist oder dass der werdende Held auf andere Weise von seiner Mutter getrennt wird. Somit führen diese Filme die Kinder (und auch die erwachsen gewordenen Kinder) in der Tat in eine bessere, magische Welt, in der ihre Wünsche Wirklichkeit werden…

Zugegeben: Pinocchio (1940) hat gar nicht erst eine Mutter, sondern nur einen „Vater“; vielleicht ist das noch besser, vielleicht erschwert es aber auch die psychische Identifikation. Alice im Wunderland hingegen (1950) war ein Flop, von dem Disney sagte, dass er zwar den Intellekt anspräche, nicht aber das Herz.

Über alles wächst Gras

Intellektuell hervorragende Menschen glauben in ihrer großen Mehrheit nicht an die christliche Religion, aber in der Öffentlichkeit und in der Politik halten sie diese Tatsache geheim, weil sie Angst haben, ihr Einkommen zu verlieren.

Bertrand Russell

Fremde Ware — Als ein Mensch, der zwar (wann immer er sich Tabak leisten kann) raucht, aber kaum kifft, kenne ich dennoch die Hanfpflanze sehr genau, während ich kaum etwas über die Tabakpflanze weiß. Denn viele Menschen aus meinem Umfeld wurden durch die Kriminalisierung dieser Pflanze dazu gedrängt, selbst in aller Heimlichkeit ein paar Pflänzchen für ihren Bedarf zu kultivieren, um nicht die überhöhten Schwarzmarktpreise für ein dope von oft zweifelhafter Qualität zu zahlen — zumal dieses Geld auch nicht gerade in die Schaffung ewiger Blumenkraft fließt. In der Folge weiß ich sehr genau und aus direkter Anschauung, wie Hanf aussieht, wie sich seine Blätter und Stängel anfühlen, wie er riecht und wie seine Blüten gebildet sind, dies sind alles Dinge, die ich über den von mir recht regelmäßig konsumierten Tabak nicht weiß. Wie doch das völlig unsinnige Verbot einer Pflanze dazu führen kann, dass der entfremdete, zum Fetisch gewordene Charakter aller gehandelter Ware zum Gegenstand der direkten Erfahrung wird!

Von Gott — Zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschheit zählt mit Sicherheit der Schlafmohn. Schon aus der Jungsteinzeit (vor rund 8000 Jahren) gibt es archäologisch erschlossene Spuren eines systematischen Anbaus der hübschen Blumen mit ihren lila Blüten; die frühesten bekannten schriftlichen Überlieferungen der Mohnkultur finden sich in 6000 Jahre alten Keilschrifttafeln der Sumerer. Der Mohn hatte auch einen Namen in diesen Tafeln, er war die „Freudenpflanze“. Der getrocknete, milchige Saft, der durch Anritzen der Samenkapsel gewonnen wurde (und der immer noch auf diese Weise gewonnen wird), er war in der Tat eine Freude. Er gewährte dem Schlaflosen Schlaf und dem Kranken Schmerzfreiheit; er wird wohl auch als frühestes bekanntes Narkotikum viele schmerzhafte medizinische Eingriffe erst ermöglicht haben. Kaum abzusehen, wie viele Leben diese Blume während der größten Zeit ihrer zivilisatorischen Verwendung wohl erhalten und wie viele sie wohl erträglich gemacht hat. Gewiss, auch als Droge fand das Opium Verwendung, denn noch verdammte keine lustfeindliche Moral die Freude am Rausch. Im Jahre 214 unserer Zeitrechnung wurde eine Inventur des kaiserlichen Palastes zu Rom erstellt, bei der unter anderem siebzehn Tonnen Opium entdeckt wurden. Beendet wurde die große zivilisatorische Errungenschaft des Opiumbaus erst durch ein Christentum, das jede Krankheit als eine Strafe Gottes betrachtete, die der Mensch hinzunehmen habe — und das deshalb die Anwendung von schmerzstillenden Mitteln zunächst für die eigenen Gläubigen und später für ganze Kulturkreise verbot und das dieses Verbot zunehmend mit staatlicher Gewalt durchsetzen konnte (und es bis heute mit Gewalt durchsetzt). Der einst so freudevolle Saft des Mohnes galt unter der Lebensverachtung dieser Lichtverneiner als ein Werk des Satans, und der Schmerz wurde stattdessen als ein Gesandter Gottes angesehen. Unter Karl dem Großen wurde das einst christliche, später staatsreligiös römische Verbot im Jahre 810 unserer Zeitrechnung erneut zum Gesetz für alle Menschen im hl. römischen Reich deutscher Nation, und es gilt bis heute für alle Menschen, auch für solche, die dem lebensverachtenden Irrsinn der christlichen Religion nicht anhängen. Es gilt selbst für Menschen mit schweren Schmerzen, denn die bürokratischen Anforderungen an die Verschreibung von Morphium zur Bekämpfung schwerer Schmerzen sind in der christlichen Welt derart hoch, dass viele Ärzte den Aufwand scheuen. Wenn heute schwer kranke Menschen unter unzureichend behandelten, höllischen Schmerzen verrecken müssen, denn ist dies direkt auf die kulturellen Wirkungen einer Religion zurückzuführen, die sich selbst in satanischer Schamlosigkeit als eine „Religion der Liebe“ vermarktet. Wer das Opium oder sein heute leichter illegal erhältliches Derivat Heroin unter der Herrschaft dieser „Liebe“ hingegen als Droge benutzt, wird in einem kriminellen und skrupellosen Schwarzmarkt gestoßen und kann noch froh darüber sein, wenn er sich neben dem gewünschten Stoff nur so verhältnismäßig „harmlose“ Substanzen wie Waschmittel in die Vene pumpt und keine wirklich gefährlichen Gifte. Die erbärmliche Verelendung der junkies ist die sich in der „Streckung“ der Droge selbst erfüllende Falschprophetie vom Schlafmohn als Werk des Teufels — und das wirklich Teuflische im Prozess, der über die Gesellschaften abläuft, versteht es immer wieder prächtig, sich als fromm zu tarnen.

Ein Prost auf das Blut des Herrn — Und der Industrielle betete, nachdem er die Zahlen aus dem Controlling mit sichtbarem Gefallen überflogen hatte, voller Dank vor seinen Brauereien und Schnapsbrennereien und sprach: „Mein Herr Jesus, ich danke dir dafür, dass du am Abend deines Todes etwas Alkohol in der Form von Wein getrunken hast und dass du dies auch in die Bibel hast schreiben lassen. Ich danke dir dafür, dass du dafür gesorgt hast, dass der Alkohol in einem zentralen Ritual einer sich auf dich berufenen Religion unverzichtbar geworden ist. Ich danke dir, dass ich deshalb gesellschaftliche Anerkennung, den Schutz des Staates und deiner Kirchen und ein sicheres Einkommen von den ganzen Trinkern habe, und dass ich nicht so ein Krimineller bin wie dieser verkommene, sündige Haschdealer da hinten in der Ecke am Rande der Gesellschaft, verflucht und verknastet sei er.“ Seine Fabriken, der Segen seines Reichtums, sie standen auf einem Berg von Säuferlebern, höher als der Hügel Golgata. Im Geweih des Hirsches, den die Werber auf den Leberkleister drucken lassen, erscheint ein Kreuz, den Pfaffen und Bankern ein Wohlgefallen. Auf der linken Seite des Kreuzes das elende Siechen der vom Suff zerrütteten Familien, auf der rechten Seite das leise Wimmern der verängstigten, für Nichtigkeiten zu Brei geschlagenen Kinder, deren Zukunft schon beendet ist, bevor ein selbstbestimmtes Leben nur begonnen hätte. Im alkoholischen Atem, der die Luft durchsetzt, dünstelt Freitod. Dahinter der Glockenturm, laut in den Abend bimmelnd, weil da einer am Altar steht, der mit neurotischer Sorgfalt und gut geübter Feierlichkeit die Worte abliest, die einen Becher Wein in das Blut Christi verwandeln sollen. Und über alles, über diesen ganzen durch die Jahrhunderte hindurch gepflügten Gottesacker, wächst Gras.

Für „Menne“

Trübe Sonne

Wenn es ein Sonnentag im Mai ist, ganz hell und die radfahrende Haut mit schönem Wind streichelnd, wenn man eines solchen Tages den brütenden Moloch der Stadt zu verlassen gedenkt und auf diesem Wege durch seine längst enteignete, deflorierte, dem nackten Gewinnstreben geopferte, im Zerfall zuckende Heimat fährt, denn greift eine kaum passende Traurigkeit würgend nach dem Herzen. Das kalte Geschwätz der Sozialpädagogen dringt in das Ohr, das leere Gelaber dieser Assimilatoren und Erwachsenenerzieher, die mit ihrem verachtenswerten Seelengeficke wahrlich schon genug von meinen Freunden in den Freitod getrieben haben, als sie aus ihnen mit professioneller Beflissenheit geschäftlich verwertbare Funktionseinheiten machen wollten. Oh ja, sie sind jetzt alle hierher gezogen, weil es ja so schön „alternativ“ hier ist, und sie bringen das mit, was sie wohl für ihre „Kultur“ halten, eine Kultur der Aasmaden des Konsums. Ich steige vom Fahrrad ab, um gegen den ersten Impuls nicht zu fliehen, aber ich beschließe auch, mir diese Wortfetzen aus den Menschzerfetzern nicht anhören zu wollen, und so stecke ich die Stöpsel in die Ohren, die den geistlosen Krach der Straßen mit Musik überlagern, und ich drücke auf den kleinen Taster, der das nächste Stück abspielt.

Wie passend es doch ist. Atom Heart Mother von Pink Floyd, ein großartiges Stück, das die Kälte, Faszination und Beliebigkeit aller Formen in der zerfallenden Postmoderne wie mit einer Abtastnadel zerlegt und in Musik wandelt. Da ich an meinen Ohren hänge, verzichte ich auf eine alles in den Schatten stellende Lautstärke, erlaube mir, auch noch ein paar Klänge der Umgebung zu hören und setze mich auf ein sonnenbeschienenes, warmes Stück Straße. Die Augen geschlossen, damit man mir nicht gleich ansieht, wie sehr mir zum Weinen zumute ist — denn genau aus einem solchem Grund, wegen so etwas unerhörtem und gefährlichem wie dem Weinen in der Öffentlichkeit, bin ich einmal von der Polizei verhaftet worden und „zu meinem eigenen Schutz“ und natürlich gegen meinen Willen in eine psychiatrische Klinik verbracht worden, wo man mich eine Woche lang wegschloss. (Und nein, ich war nicht verwirrt, ich war einfach nur traurig, und ich hatte und habe allen Grund dazu. Es ist doch beachtlich, wie einem das Fühlen der Traurigkeit ob eines beschädigten Lebens noch verweigert wird, wie man sich in plumpen Spaß oder doch wenigstens in Stumpfheit üben soll, um nicht aufzufallen und deshalb gesellschaftlich sanktioniert zu werden.) Es ist die stete Kälte und Gewalt, die uns Menschen allen. Diese kleinen Gesten aufzwingt, die stete, tägliche Kälte und Gewalt.

Nach gut sechs Minuten, „Breast Milky“ hatte gerade begonnen, öffnete ich die Augen aber, weil sich ein lautes, klapperndes Geräusch mit der Musik durchmischte, ein Krach, der sich nicht selbst erklärte und der meine Aufmerksamkeit erzwang. Es handelte sich um eine Horde von vielleicht dreißig Menschen, die uniform gekleidet und stockklappernd nordic walking betrieben und sich offenbar darin gefielen, sich dabei so auf dem flanierenden Zeigen und Sehen zu präsentieren. Es ist inzwischen sogar schon chic geworden, wenn man ohne Not eine Gehhilfe verwendet. Ob es wohl auch bald „sportliche“ Rollstühle geben wird, deren tägliche Benutzung ganz toll für Herz, Kreislauf und Leistungsfähigkeit als Batterie im betrieblichen Produktionsprozess ist?

Ich zog es vor, rasch auf das Rad zu steigen und weiterzufahren, raus aus dem Moloch, die fabrikneuen Trümmer meiner zerstörten Heimat hinter mich lassend. In mir die Erinnerung an die dort entfernten Menschen, die so roh und unverbildet waren, dass sie ein Wort wie „Solidarität“ nicht in den Mund nahmen, sondern einfach lebten. Brach liegt alles, aber auch alles fern. Ich bin froh darüber, dass es endlich wieder so warm ist, dass es eine Freude ist, draußen zu sein. Und ich habe nicht mehr die Absicht, auch nur noch einen einzigen Winter zu erleben. Bei Lichte betrachtet, ist das bisschen Lust den ganzen Schmerz doch gar nicht wert.

Auswärtiges Denken (47)

ProSieben TEXT - TED-Frage - Neuer Bundespräsident wird gewählt - Wer ist der beste Kandidat? - H. Köhler 27,1% - G. Schwan 15,2% - P. Sodann 2,2% - F. Rennicke 55,5%

In einem größeren Neonazi-Forum wurde das schon mit dem Hinweis gefeiert, deshalb dürften in Deutschland Staatsobehäupter „nicht mehr” vom Volk gewählt werden, weil sich der Souverän sonst so entscheiden könnte, aber vermutlich glauben sie das selber nicht. In Wahrheit zeigt die Abstimmung wohl eher, was für Leute eigentlich doof genug sind, Geld dafür auszugeben, an diesem Umfragequatsch teilzunehmen.

Stefan Niggemeyer. Großartig!

Große Vögel

Ich habe noch nicht erwähnt, dass ich mich sehr darüber freue, dass ich auch in der recht unmittelbaren Umgebung eines brummenden Molochs wie Hannover hin und wieder ein Storchenpaar sehe. In diesem Jahr habe ich sogar zwei Paare ausgemacht, eines in der Gegend um Rethen, das sein Nest auf einen Hochspannungsmast errichtet hat; und ein weiteres Paar in der Nähe Stöckens, dessen Nest ich zwar noch nicht gefunden habe, aber derart große und selten gewordene Vögel fallen ja doch auf, wenn sie die feuchten Wiesen nach Nahrung absuchen.

Es ist zwar sicher, dass die keine kleinen Babys bringen, aber etwas Metaphysisches scheinen sie doch zu bewirken — denn jedes Mal, wenn ich in der Gegend bin und ein Foto dieser Wesen machen will, die anders als ich keinen Winter kennen, ist der müde Akku in meiner ziemlich schrottigen Kamera leer. Ich habe es jetzt einfach aufgegeben…

Ungünstiges Verkehrsmittel

Vielleicht würde der einzigen großen Verheißung der christlichen Religion an die gläubigen Menschen, der Verheißung eines erfüllten und ewigen Lebens im Paradiese, ein kleines bisschen mehr wirkliche Kraft innewohnen, wenn sich dieser verhießene Ort auch mit anderen Verkehrsmitteln als immer nur mit dem Leichenwagen erreichen ließe.

Zentraldämpfende Mittel

Die Religion mag einmal das Opium für den größten Teil des Volkes gewesen sein, sie mag dabei neben allgemeiner Sedierung auch zu so manchem kleinen Rausch geführt haben. Das ist vorbei. Heute ist das Fernsehen das Valium für das Volk.

Pazifistischer Selbstmord

Das Königreich des Vaters ist gleich einem Mann, der wollte einen Mächtigen töten. Er zog in seinem Haus das Schwert und durchstach die Mauer, um herauszufinden, ob seine Hand stark genug wäre. Dann tötete er den Mächtigen.

Jesus aus Nazaret zugeschrieben, Thomas-Evangelium, Logion 98

Sie sprach mich auf die Gewalt an, nicht auf jene abstrakte, strukturelle Gewalt, die mein Leben formte, sondern auf jenen greifbareren Teil dieser Gewalt, der mich zur unmittelbaren Reaktion nötigte. Und sie nannte mich, trunken des feigen Stolzes, sogar einen Gewalttäter. Und ich konnte dieser worteifrigen Pazifistin für Andere nur sagen, dass ich schon lange keine dritte Wange mehr zum Hinhalten habe, und dass damals schon die zweite Wange zu viel war. So sehr ich den Frieden schätze, ich werde nicht mehr nach Frieden mit jenen Menschen streben, die den Frieden verachten, weil sie in ihrem schlundhaften psychischen Verhungert niemals zufrieden sein können. Solches Streben kommt einem schleichenden Selbstmord gleich, den man vor lauter Feigheit durch die Hände eines Anderen ausüben lässt. Wo es keinen Frieden gibt, da sollte niemand unter Absagen ethikartiger Phrasen so tun, als sei Frieden. Denn. Alles vermeidbare Elend der Menschen beginnt mit dem Selbstbetrug.

Platz!

Er ist zwei Köpfe kleiner als ich. Und. Er bettelt. Er ist einsam, denn das ist die Folge eines Lebens als gesellschaftlicher Außenseiter. Das ist wohl auch der Grund, weshalb seine Stimme einen Klang bekommen hat, der in gleicher Weise zynisch und aggressiv wie angenehm zurückhaltend ist. Der Jüngste ist er nicht mehr, aber das sieht man erst auf dem zweiten Blick.

Denn. Obwohl er einsam ist, ist er nicht allein. Er führt einen Hund mit sich, und das ist das Bemerkenswerte an dieser Begegnung. Denn neben seinem Hund. Wirkt er noch kleiner. Sein Hund ist eine riesen Deutsche Dogge, und man fragt sich bei diesem Anblick unwillkürlich, wo wohl die versteckte Kamera ist — zu surreal sieht die Szene aus. Aber es ist keine versteckte Kamera. Es ist Wirklichkeit.

Als er mich anbettelt, gebe ich ihm zu verstehen, dass ich selbst vom Betteln lebe; wir teilen eine Zigarette von meinen letzten Krümeln Tabak und ein paar warme Quäntchen Wort, von denen wir Herzen der Gosse oft zu wenig bekommen. Und irgendwann frage ich ihn zwischen Wetter und sporadischen Erlebnissen und Plänen und Taten und Träumen, wie er sich überhaupt mit einem so großen Köter durchschlägt, der doch wohl auch einen großen Hunger hat.

Die Antwort ist nur im ersten Moment verblüffend. Er braucht, so sagt er, den Hund, um die Wohnung halten zu können. Das Futter für den Hund ist niemals das Problem, denn der Metzger gibt dem Hund bereitwilliger als jedem Menschen das, was er nicht mehr verkaufen kann. Aber nicht nur der Metzger sei so gestrickt, setzt er fort, sondern alle geben ihm mehr beim Schlauchen, wenn er mit dem Hund an der Straße steht, ja, es reicht für die Bude und einen täglichen Bauchvoll. Er hat den Hund damals eigentlich nur von einem Bekannten genommen, der für längere Zeit ins Krankenhaus musste, weil er es nicht übers Herz brachte, dass dieser tolle Hund im Tierheim landet, und irgendwie schlägt man sich ja immer durch. Doch dann entdeckte er sehr schnell, dass es sich mit dem Hund müheloser und besser bettelt, dass die Menschen viel eher zum Geben bereit sind, wenn sie ein Tier in Armut sehen. Als wenn sie einen Menschen in Armut sehen. Und schließlich sagt er noch, dass er in den Augen der ganzen Arschlöcher hier als verarmter Mensch noch wertloser als jedes Haustier ist, und genau das. Hat er lernen müssen in den letzten Jahren. Und. Wie er das so bitter sagt, klingt er gar nicht grimmig, obwohl er mit seinen kurzgeschorenen Haaren und seinem recht kalten Blick sehr aggressiv aussieht, sondern er klingt. Sehr resigniert. Ganz wie jemand, der von seiner Gesellschaft in täglicher Dressur mit Zuckerbrot und Peitsche gelernt bekommen hat, was sein Platz ist.

Und er sagt, nicht im bellen Kommandoton, sondern in eigentümlich leiser und fast lieber Stimme zu seinem Hund: „Platz!“

Mit fröhlichem Gruß an A.