Archive for Juli, 2010


Das Gegenteil von Zukunft

Sie sagte: Das Gegenteil von Zukunft ist nicht die Vergangenheit. Das Gegenteil von Zukunft ist die Herkunft.

Leichenfledderer

Angesichts der Katastrophe — wieso schreibt die Journaille eigentlich bei diesem Thema so gern Tragödie, ganz so, als ob es ein aufgeführtes Schauspiel wäre, von dem sich die Menschen entspannt zurückgelehnt unterhalten lassen sollen — auf der Loveparade hat es sich das Fachblatt für geile Bilder und widerlichen Gossenjournalismus, die Bildzeitung, nicht nehmen lassen, schnell noch ein wenig in den Leichen zu fleddern und Google-Ads zu geeigneten Suchbegriffen zu schalten, damit die Toten auch ja noch ordentliche page impressions und Werbegeld für den Springer-Verlag bringen:

Todesopfer Loveparade -- Loveparadebesucherin erlag ihren Verletzungen. Mehr auf Bild.de -- www (punkt) bild (punkt) de (slash) Opfer_Loveparade

Ich empfehle übrigens angesichts derartiger Ads, ruhig einmal angewidert darauf zu klicken und dabei zu hoffen, dass es auch richtig teuer für die Entseelungsreste wird, die auf diese Weise Geschäft machen. Den Browsertab kann man getrost schließen, bevor die grelle Website der Bildzeitung vollständig geladen ist. Es kostet schon, wenn Google den Klick registriert hat.

Der Depp im Recht

Und immer wieder begegnet man diesem Schlag besserwisserischer Menschen, die nicht imstande sind zu bemerken, dass man durchaus recht haben kann und dabei dennoch ein Idiot sein kann.

So genannte „Webforen“ sind übrigens Magneten für diese Menschen.

Gefällt mir

Ein entsetzliches Bild -- und darüber der Button mit der Aufschrift 'Gefällt mir'

Wettfieber

Für einen, dessen hauptsächliches Interesse darin liegt, sein Geld darauf zu wetten, wie die Wettbewerbe zwischen den Pferden ausgehen mögen, ist die Begeisterung an der Ungleichheit der Pferde weitaus größer als die Begeisterung für den Gedanken der Gleichheit der Menschen.

Gedenkminuten

Hinterher werden hochnotfeierliche Gedenkminuten veranstaltet, um ja auch für das nächste Mal besser vergessen zu können, dass vorher Denkminuten von Nöten gewesen wären. Und all jene, die das Denken im Vorfeld verweigert haben, werden im Nachhinein beim Gedenken in der ersten Reihe stehen, um von den Kameras ihre eiskalte, professionell aufgesetzte Betroffenheit zur Schau stellen zu können. Und zur Dekoration des „Gedenkens“ versichern bezahlte Redner allen, die gern eine wohlverpackte Lüge in ihren Ohren schmecken, dass es sich um Schicksal gehandelt habe, dass kein Mensch dafür verantwortlich sei, denn für solches Reden werden die bezahlten Redner von den Verantwortlichen bezahlt. Zum Glück. (Für solche Kultivierungen der Heuchelei.) Können die Toten nicht mehr widersprechen. Ein kurzes Ritual, vielleicht ein Lied dazu, so eine Seele ist ja leicht abzuspeisen — und ein hochrangiger Pfaffe, der so eine Prostitution der Trauer mitträgt, hat sich bislang auch immer noch gefunden. Die Erfolgreicheren unter den Anwesenden denken während der gemeinsam aufgeführten Schweigeminute schon über das nächste einträgliche Geschäft nach.

Nachtrag: Stand 28. Juli, 2.28 Uhr

Kopfschuss

Eine Religion, deren Anhänger und Führer sich vor dem Fortschreiten der menschlichen Erkenntnis und vor der Wissenschaft fürchten müssen, ehrt mit dieser Haltung nicht etwa Gott, sondern dokumentiert, dass sie schon längst Selbstmord begangen hat. Die angstvolle Scheu, mit der derartig religiöse Menschen der Vielfalt des Daseins entgegentreten, ist nur Spiegelbild dieses Selbstmordes.

Achtung! Radfahrer!

Radfahrer absteigen

Auf keinen Fall mit dem Fahrrad durch die Wand fahren! Das ist verboten. Also absteigen!

Hinweis: Das folgende Zitat ist keine Satire.

Krieg kann doch dann nicht gerecht sein, wenn etwa in Geschossen noch immer überwiegend Schwermetalle verarbeitet werden, die biologisch kaum abbaubar sind. Ich bin der Meinung, dass es heute nicht mehr vermittelbar ist, Patronen herzustellen, die nicht auch Pflanzen- und Blumensamen enthalten. Neben einer Schwarzpulverfüllung muss künftig jedes Geschoss auch Saatgut enthalten. Neben dem ökologischen Aspekt gibt es auch einen symbolischen: Wo Leben geht, muss Leben kommen.

Selcuk Balamir

Bei Demokratie und Alltag finden sich weitere Beispiel des politisch geforderten Neusprechs der kultursensiblen Sprache und des bullshits im Dunstkreis dieser Bestrebungen, bei denen man nicht weiß, ob man lachen oder erbrechen soll…

Breitband für alle!

Es ist immer wieder erstaunlich, wie reich in der Echokammer der deutschsprachigen Internet solche großen „gesellschaftlichen“ und „politischen“ Forderungen wiedergegeben werden, dass jeder Mensch hier als Quasi-Menschenrecht einen Breitband-Zugang zum Internet benötigt und dass ein solcher Zugang zum Internet schon allerlei gesellschaftliche Probleme lösen wird. Ich saß gerade bei einer 73jährigen Frau, die mit ihrer (übrigens schon überdurchschnittlichen) Rente kaum noch über die Runden kommt, nur noch mit gewisser Mühe ihre Miete bezahlen kann, schon in einem für sie selbst nicht mehr erträglichen Maße verschuldet ist, sich große Sorgen darüber macht, dass sie auf ihre alten Tage wohl noch einmal einen Umzug wuppen muss, zurzeit nur noch bei „Discountern“ einkaufen kann und mit großer Bitterkeit darauf zurückschaut, dass ihr von einem Leben voller Arbeit nichts bleibt als ein Leben voller Krankheiten, die zu einem Gutteil auf die Arbeitsbedingungen zurückgehen, unter denen sie ein Leben lang gearbeitet hat — und die bei alledem mehr als nur unterschwellig davon spricht, dass sie auf einen schnellen Tod hofft. Wenn ich mir das alles anhöre, den bitteren Geschmack vieler Worte noch stundenlang im Munde behalte, denn weiß ich wirklich nicht, wie ich diesem Menschen gegenüber die „Erlösung durch das breitbandige Internet“ vertreten soll, ohne mich dabei zu schämen. Diese seltsamen Großkopferten im deutschsprachigen Internet, die solche messianischen Hoffnungen auf eine bloße Technik setzen und sich über die gewaltigen Klickzahlen freuen, wenn sie solche messianischen Hoffnungen auf ihren Websites publizieren, sie scheinen sich niemals mit anderen Menschen außerhalb ihrer recht engen Kreise zu unterhalten — oder, wenn sie es einmal nicht vermeiden können, ihre Ohren angesichts des hörbar beschädigten Lebens auf Durchzug zu schalten. „Breitband-Internet für alle“ ist ja eine durchaus bedenkenswerte Forderung, aber angesichts dessen, was der gegenwärtig über die Gesellschaft ablaufende Prozess an Menschen hinter sich zurücklässt, sollten politische Forderungen für ein erträgliches und dem Menschsein angemessenes Leben doch ein bisschen breitbandiger sein.

Das Manifest-Manifest

Sieben unentbehrliche Thesen zur entbehrlichen Kommunikation im deutschsprachigen Internet, schnell herausgehustet und in die vertraute Form einer nummerierten Liste gebracht.

  1. Form follows dysfunction
    Du willst etwas im deutschsprachigen Internet mitteilen und ganz viel Aufmerksamkeit dafür erlangen? Aber da ist gar nichts Bedeutsames zum Mitteilen? Und wenn du ganz genau hinschaust, hast du gar nichts zum Mitteilen, vielleicht abgesehen von ein paar Allgemeinplätzen und Selbstverständlichkeiten? Schreib das Bedeutungslose einfach als nummerierte Liste herunter, immer mit einer kurzen, fettgesetzten und blahhaften Aussage am Anfang und nenne das Ergebnis „Manifest“ oder auch mal „Thesenpapier“! Diese Form macht den Erfolg gewiss, wenn du nicht gerade Inhalte bringst. Und das beste daran: Wenn du den Text in HTML als geordnete Liste setzt (also im <ol>-Tag), denn nummeriert der Browser das für dich durch. Du weißt nicht, was HTML oder ein Tag ist? Na, denn nummerierst du eben von Hand durch. Man kann beim Schreiben ja nicht die ganze Arbeit dem Computer überlassen…
  2. Keine Qual der Themenwahl
    Natürlich kann man solche Manifeste nicht zu jedem Thema verfassen. Bei Themen mit unmittelbarer Relevanz für das Leben der Menschen fällt trotz des wuchtigen Wortes „Manifest“ und der gewählten Form der dürftige Inhalt auf. Also schreibe dein Manifest nicht über so schwierige Themen wie etwa die Frage, ob ein jedem Menschen offen stehender Zugang zu Bildung eine Bedingung für die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ist, oder ob es so etwas wie ein unabdingbares, zu garantierendes und durch keinen Zwang auszuhöhlendes Recht eines jeden Menschen auf Leben geben sollte, einfach, weil er ein Mensch ist. Das sind nicht die Themen, die interessieren. Denk daran, du schreibst im Internet. Also nimm auch das Internet zu Thema, und sei dir nicht zu peinlich dafür, aus diesem Netzwerk von Computern große gesellschaftliche Forderungen und Heilsversprechen abzuleiten! Man muss ja nicht gleich nachdenken, wenn man so ein Manifest schreibt…
  3. Scheinbare Tiefe durch verallgemeinernde Begriffe
    Du weißt, was der Begriff „Begriff“ bedeutet? Er bedeutet, dass etwas „begreifbar“ wird, also anfassbar, antastbar. Das ist nicht deine Absicht. Deshalb verwende die allgemeinsten und farblosesten Begriffe, die du finden kannst! Die sind zwar immer noch Begriffe und erwecken den Anschein, dass durch sie etwas anfassbar und antastbar wird, aber wenn man wirklich hingreifen will und seine Hände danach ehrlich befragt, hat man in den Nebel gegriffen. Wenn diese Begriffe sogar noch mit althergebrachter, echter Bedeutung aufgeladen sind, um so besser. Im Dunstkreis des Internet ist „Journalismus“ so ein nebulöser Begriff; von Alters her ist sein Klang noch gut, aber in Wirklichkeit ist es aber zurzeit vor allem das Abschreiben aus den NITF-Tickern der großen Nachrichtenagenturen, damit der Käufer der journalistischen Produkte nicht sofort bemerkt, dass er vor allem Werbung kauft und dass es die Hauptaufgabe der gesamten Journaille geworden ist, dass er diese rezipieren soll. Ein anderes dunstiges Wort ist „Partizipation“. Bringe derartige Unbegriffe einfach im Zusammenhang mit dem Internet, vergiss dabei nicht, auch den Unbegriff „Medien“ immer wieder in dein Texterfassungsprogramm zu schreiben, und wirf dabei ja keine gesellschaftlichen Fragen auf, deren Lösung nicht in der Verfügbarkeit einer Technik besteht. Man muss ja nicht gleich nachdenken, wenn man dein Manifest liest…
  4. Autoritäre Sprache
    Weißt du, wer der wohl beliebteste deutsche Kanzler war? Das war Adolf Hitler. Denk mal über seine Sprache nach, die so viele Menschen in Deutschland einmal so gern gehört haben! Einfache Aussagen, die keinen Widerspruch dulden, die in der Rede dieses Gasmannes als unverrückbare Tatsachen erscheinen; nicht durch Argumente und dargelegte Gedanken bestärkt, sondern durch Lautstärke. Eine hervorragende Vorbereitung für den Kommandoton und die Abschaltung der höheren Geistesmöglichkeiten beim Ausführen von Befehlen. In dieser Form bekommt man in Deutschland jeden verrückten Quatsch durch. Schau um dich, betrachte die Reklame, die Zeitungen, die politische Rede! Der Stil kommt immer noch an. Du schreibst ein Manifest, also halt deine Sprache autoritär und klatsch deine Unverbindlichkeiten in Worten hin, die wie ewige Wahrheiten klingen! Dass die alte Religion keine besondere gesellschaftliche Rolle mehr spielt, bedeutet noch lange nicht, dass die Menschen nichts mehr glauben wollen…
  5. Technik ist scheiße
    Dass du jeden Bezug zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozess vermeidest, wenn du dein Manifest zum Thema Internet schreibst, darf aber noch lange nicht bedeuten, dass du dich über die technischen Grundlagen des Internet auslässt. Du willst doch Aufmerksamkeit mit deinem Manifest, oder? Jeder technisch klingende Terminus reduziert die Leserschaft um ca. zwanzig Prozent, und jede in mathematischer Schreibweise gesetzte Formel reduziert die Leserschaft um ca. fünfzig Prozent. Korrekte Herleitungen technischer Schlüsse und die zugehörigen Gedankengänge reduzieren die Leserschaft auf ein paar Handvoll geeks, und wenn du dabei nicht sehr fundiert und einfallsreich bist, denn lacht diese Handvoll geeks über dein hohles, stümperhaftes Gelaber. Also gib dich gar nicht erst mit dieser Technik ab! Du willst dich ja nicht in ein komplexes Thema einarbeiten, sondern ein Manifest darüber schreiben…
  6. Heute ist morgen gestern
    Um dein gedankenverhungertes Manifest so richtig gehaltvoll klingen zu lassen, wende den bekannten Nostradamus-Trick an und schreib über die Zukunft. Von Nostradamus lernen heißt übrigens auch, niemals ein konkretes Datum zu nennen. In Deutschland haben die meisten Menschen Angst vor der Zukunft, und deshalb finden sie jede Aussage über die Zukunft sehr interessant — zumindest viel interessanter als eine Bilanz der Gegenwart und die Beschäftigung mit der Frage, wie es zu dieser Gegenwart kommen konnte. Die Zukunft ist die gewaltige Leinwand, an der du deine Nichtigkeiten projizierst, direkt aus deinem Kopfkino projizierst. Entwirf mit nebulösen und nicht zu schwülstigen Worten große Visionen einer wunderbaren und paradiesisichen Zukunft, ohne die Strukturen in Frage zu stellen oder auch nur zu betrachten, die verhindern, dass diese Zukunft schon Gegenwart geworden wäre! Die Technik, die du selbst nicht begreifst, sie ist der neue Messias, und im Internet regnet es Geld und Schokochips für alle vom Himmel. Zumindest morgen. Oder auch mal übermorgen. Und hoffentlich ein bisschen früher für dich. Man kann ja schlecht nach den Sternen greifen, wenn man mit den Füßen noch auf dem Boden steht…
  7. Prominenz und Titten
    Wenn dein Papier fertig ist, fehlt nur noch eines: Dass du ein paar Leute typische Internet-Prominenz findest, die sich dahinterstellen und ihren Namen dafür hergeben und das ganze wirre Ding zum Thema machen. Das müssen jetzt keine nachdenklichen oder auch nur interessierten Typen sein, es reicht, wenn es bekannte Typen sind. Am besten Typen, die als Inbegriff des deutschen Internet betrachtet werden — und zwar von denjenigen Medien, die deinem Manifest zufolge morgen (oder auch mal übermorgen) vom Internet abgelöst werden. Wenn dein Manifest nach einer halben Stunde Formulierens eine gelungene Kombination aus Meidung jeglicher daseinsrelevanten Aussage und bedeutungsschwanger klingenden Punkten geworden ist, denn geben diese Typen sich bestimmt dafür her. Das ist gut für deren Marketing, weil sie sich als engagiert hinstellen können, und es wird auch gut für dein Marketing. Sogar Politiker stellen sich gern mit erfolgreichen Sportlern oder vermarkbaren Musikern in die Öffentlichkeit, obwohl diese Unterhaltungshanseln nichts mit Politik zu tun haben. Lerne davon! Du kannst ja nicht warten, bis du selbst in diese Riege aufgestiegen bist und endlich niemand mehr so eine Lächerlichkeit wie Internet-Manifeste ernst nimmt…

Thomas Müntzer über die Diebe

Die Grundsuppe der Dieberei sind unsere Fürsten und Herrren, nehmen alle Creaturen zu ihrem Eigenthum, die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihre seyn. Aber den Armen sagen sie: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen. Sie selber schinden und schaben alles, was da lebt; so aber ein Armer sich vergreift am Allergeringsten, muß er henken. Dazu sagt denn der Doctor Lügner Amen.

Thomas Müntzer