Die Gelegenheit, einen Gedanken zum 29. Februar zu schreiben, erhält man ja nur beinahe alle vier Jahre. Einer solchen Gelegenheit kann ich kaum widerstehen, allerdings gehe ich heute richtig in die Breite… 😉
Ich schrieb schon eingangs, dass es „beinahe alle vier Jahre“ sind. Denn anders, als die meisten Menschen glauben, gibt es nicht alle vier Jahre ein Schaltjahr, da das Schaltjahr drei Mal in vierhundert Jahren ausfällt. Jeder Mensch, der sich den Tücken des gregorianischen Kalenders schon einmal als Programmierer stellen musste, kennt die folgenden Regeln zur Bestimmung von Schaltjahren (oder genauer gesagt: sollte sie kennen):
- Wenn die Jahreszahl ohne Rest durch 4 teilbar ist, handelt es sich um ein Schaltjahr, außer
- wenn die Jahreszahl ohne Rest durch 100 teilbar ist, denn dann ist es kein Schaltjahr, es sei denn
- die Jahreszahl ist ohne Rest durch 400 teilbar, denn dann handelt es sich doch um ein Schaltjahr.
Überflüssig zu erwähnen, dass Programmierer hier immer wieder Fehler machen. Selbst in Tabellenkalkulationen, auf deren Genauigkeit beim Rechnen sich doch viele Menschen verlassen, habe ich solche Fehler schon gefunden. Wer schlau ist, der verwendet für jede Verarbeitung kalendarischer Angaben den fertigen Code anderer Programmierer, denen man im Falle eines Fehlers die Schande zuschieben kann… 😉
Aber wie kommt es zu derart pathologisch anmutenden Regeln?
Das Grundproblem des Kalenders ist ein historisch gewachsenes. Als Menschen in prähistorischer Zeit damit begannen, die Tage zu zählen, orientierten sie sich an drei Zyklen, die für sie von unmittelbarer Wichtigkeit waren. Zwei dieser Zyklen ließen durch relativ einfache astronomische Beobachtung verfolgen (vgl. die monotheistische Deutung in 1.Ms 1,14) und dürften damit zum älteren Kern des Kalenders gehören, der dritte Zyklus war hingegen etwas komplizierter in seiner Bestimmung, aber dafür von größter Wichtigkeit für Ackerbau und Viehzucht treibende Menschen:
- Die Rotation der Erde um ihre eigene Achse führt zum periodischen Wechsel von Tag und Nacht.
- Die Bahn des Mondes um die Erde führt zu einem periodischen Wechsel der Mondphasen, da sich der von der Sonne beleuchtete und damit sichtbare Teil des Mondes verändert.
- Die Neigung der Erdachse führt dazu, dass sich (in nicht-äquatorialen Regionen) die Menge der empfangenen Sonneneinstrahlung und die Länge von Tag und Nacht mit der Bahn der Erde um die Sonne periodisch verändern.
Der erste Zyklus ist von so elementarer Bedeutung für den Tagesrhythmus jeder irdischen Lebensform, dass er wohl immer schon bedeutsam war und in jede Planung einbezogen wurde. Es gibt den hellen Tag und es gibt die dunkle Nacht. Schon früh werden Menschen diesen Zyklus weiter unterteilt haben in den „Morgen“, den „Mittag“, den „Abend“ und die „Nacht“ — und alle ihre Tätigkeiten unter dem Diktat der unbesiegten Sonne verrichtet haben, die beinahe überall als hohe Gottheit verehrt wurde. Selbst in der Neuzeit konnte man in Time von Pink Floyd noch folgende Zeilen hören (meine eventuellen Verhörer inbegriffen):
The sun is the same in a relative way
But you are older:
Shorter of breath,
One day closer to death.
Nicht überraschend, dass der überaus bedeutsame, als ewig empfundene Tageszyklus zur Grundlage jedes menschlichen Kalenders wurde. Übrigens benötigt die Erde für eine Rotation um ihre eigene Achse etwas weniger als 24 Stunden. Da sich die Erde aber zusätzlich auf ihrer Bahn um die Sonne bewegt, addieren sich diese beiden Bewegungen zur gewohnten Tageslänge.
Die anderen, nicht minder wichtigen Zyklen mussten natürlich an den Tageszyklus angepasst werden. Der sicherlich älteste zusätzliche Zyklus des Kalenders ist der monatliche. Selbst im modernen deutschen Wort „Monat“ schwingt der ethymologische Nachhall des Mondes mit, obwohl im deutschen Kulturraum schon seit Jahrhunderten kein Mondkalender mehr gebräuchlich ist. Der Mondmonat ließ sich recht einfach und anschaulich in kleinere Einheiten zerlegen, in die „zunehmende Sichel“, die „zunehmende Hälfte“, die „abnehmende Hälfte“ und die „abnehmende Sichel“ — was zur heute üblichen Wochenlänge von sieben Tagen führt. Der Mond liefert also gute Maße für kurzfristige Absprachen gemeinsamer Tätigkeiten von Menschen.
Allerdings passt der Mondzyklus schon nicht mehr zur Tageslänge. Wir wissen natürlich nicht, wie die Menschen in vorhistorischer Zeit beobachtet haben, aber es liegt nahe, dass sie sich an der sichtbar werdenden Sichel nach Neumond orientiert haben. (So weit ich weiß, ist dies im Islam bis heute das gültige Kriterium für den Beginn eines neuen Monates.) Dabei werden die Menschen schon früh festgestellt haben, dass ein Mondzyklus das eine Mal 28 Tage, ein anderes Mal hingegen 29 Tage dauert. Wie immer die Menschen auch versucht haben mögen, diese Erscheinung in ihrer Betrachtung der Welt unterzubringen, es wird ihnen gewiss nicht leicht gefallen sein.
In einer Kultur, die nahe am Äquator liegt und deshalb kaum jahreszeitliche Schwankungen kennt, sind diese beiden astronomischen Maße völlig ausreichend. Es gibt dort keinen Anlass, im Kalender über die Betrachtung des Mondzyklus hinaus zu gehen.
Der größere Teil der von Menschen bewohnten Welt kannte jedoch noch ein weiteres, sehr bedeutsames astronomisches Ereignis, nämlich die jährliche Wiederkehr der Jahreszeiten, die zur Berücksichtigung des Jahreszyklus im Kalender führte. Mit diesem Schritt wird ein weiteres astronomisches Maß in den Kalender eingeführt, das ebenfalls in keinem ganzzahligen Verhältnis zu den beiden anderen Maßen und zu den von diesen Maßen abgeleiteten Untereinheiten steht. Da aber der Zyklus der Jahreszeiten für die Anforderungen des Ackerbaues überaus wichtig ist, wurden die anderen astronomischen Erscheinungen dem Jahreskreis untergeordnet und „schön gerechnet“, während man sich zur Messung des Jahresverlaufes gewiss der Aufgänge von Fixsternen bediente. Dabei hatten die frühesten Kalendermacher eine ganze Reihe von schwierigen Problemen zu lösen:
- In einem Jahr gibt es fast, aber nicht ganz genau 13 Monde.
- Ein Jahr dauert fast, aber nicht genau einen Vierteltag länger als 365 Tage.
- Ein Jahr enthält 52 Wochen, aber zusätzlich eineinviertel Tage.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Lösung dieser Probleme bis heute nicht gelungen ist. Die alten, überkommenen und in diesem Konzept gar nicht mehr passenden, unmittelbar beoachtbaren, astronomischen Einheiten (Monate, Wochen) wurden eher notdürftig in das neue Konzept gerettet und dabei zwangsläufig ihrer ursprünglichen astronomischen Bedeutung entkleidet. Der Kalender verlor in diesem Zuge seine ursprüngliche Anschaulichkeit und damit vieles von seiner Nützlichkeit. Die für das zivilisierte Leben und Überleben der Bauern erforderliche Zeitmessung wurde zu einer Beschäftigung für spezialisierte Fachleute. In dieser Übergangszeit bildete sich eine spezialisierte Kaste von Priestern heraus, die mit eben dieser Aufgabe betraut war und aus ihrem Geheimwissen persönlichen Vorteil zu schlagen verstand — auch dies eine Situation, die von der Menschheit bis heute nicht völlig überwunden wurde, was sich auch darin zeigt, welcher Marktwert dem abstrakten Gut der „Information“ selbst noch im Zeitalter einfacher Datenübertragung zugeordnet wird.
So zeigt sich am einfachen Beispiel der Entwicklung des Kalenders bereits die Entstehung einer arbeitsteiligen Gesellschaft, einer ersten Idee von abstrakter Arbeit und einer gesellschaftlichen Hierarchie, zu der Menschen nicht durch individuelle Fertigkeit, sondern nur durch Teilhabe an geheim gehaltenem Wissen Zugehörigkeit erlangen können. (In der Regel wird dieses Wissen „vererbt“ worden sein.) Auch dies sind allesamt Zustände, die von der Menschheit immer noch nicht überwunden wurden.
Ebensowenig überwunden ist übrigens auch die damals entstandene, außerordentliche Bedeutung „der Sterne“ im von seinen Anhängern wenig reflektierten Aberglauben der Astrologie.
Selbst in unsere Zeit, die sich doch gern als der Inbegriff der Rationalität selbst beweihräuchert, hat sich aus dieser Phase am Beginn der menschlichen Zivilisation ein Kalender gerettet, dessen Notdürftigkeit kaum zu übersehen ist. Die im Kalender verwendeten Zahlen sind für unsere Verhältnisse allesamt „krumm“ und laden geradezu zu Fehlern ein, wenn man mit 7, 24, 28, 29, 30, 31, 60 umgehen muss. Die kalendarische Einheit des Monates ist in der Anzahl der Tage völlig unlogisch und nur durch Faustregeln oder stumpfes Auswendig-Lernen zu beherrschen. (Wer mir das nicht glaubt, erkläre bitte einmal einem Kinde, welcher Monat wie viele Tage hat — und hinterher gleich die Sache mit den Schaltjahren!)
Eine Bastion der Irrationalität hat sich durch die Jahrhunderte hinduch bis heute halten können. Und das. Obwohl die vielen kalender-bezüglichen Fehler in Software gewiss einen beachtlichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten. In dieser Bastion der Irrationalität spiegelt sich wider, dass sich auch manche andere Irrationalität aus der Vergangenheit erhalten haben mag, die nur deshalb nicht als solche gesehen wird, weil sich die Menschen daran gewöhnt haben.
Und. Es ist nicht nur der 29. Februar, der gemahnen sollte, daran zu denken.