Für die Kunst war die Erfindung der Fotografie ein großer Glücksfall. Nicht nur, weil ihr ein weiteres Medium für den künstlerischen Ausdruck gegeben wurde. Sondern auch. Weil es nun nicht mehr als das Wesentliche in der Kunst verstanden werden konnte, wenn ein zutreffendes Abbild der sichtbaren Wirklichkeit erstellt wurde, das sich „nur“ durch seine Komposition und eine ästhetisch motivierte Auswahl des Abgebildeten über die Alltagserfahrung erhob. Denn diese Leistung konnte besser durch eine maschinelle Vorrichtung erbracht werden, und die industrielle Fertigung von Fotoapparaten und Filmen sowie die Errichtung einer Infrastruktur zur massenhaften Anfertigung von Filmen und Abzügen brachte es mit sich, dass eine solche Leistung heute jedem Menschen zur Verfügung steht — auch noch dem größten Dilletanten, der unbeleckt von jedem Streben nach Qualität den dumpfen Lüsten seines Lebens folgt und dabei unentwegt Hochzeiten, Geburtstage, Urlaubspalmen und Scheinereignisse der Inhalte-Industrie knipst, um solch Abrieb eines Konsumentenlebens in großen Alben zu vergraben.
Zusammen mit diesem Fortschritt trat eine qualitative Veränderung in der Kunst ein, die noch nicht abgeschlossen ist. Die Frage, ob ein Werk ein zutreffendes Abbild der physikalischen Wirklichkeit sei, interessiert zwar noch den Banausen in seiner kitschduseligen Geschmacksverirrung, aber nicht mehr den Künstler, der in der Regel mehr will, als mit beschränkten, menschlichen Mitteln im Spiegel seiner Psyche die Leistung einer unermüdlich den Naturgesetzen folgenden Maschine nachzuäffen. Zum Thema jeder Kunst, die einen solchen Namen verdient, wurde immer weniger die objektiv zutreffende Reproduktion des Seienden und immer mehr der Fingerzeig auf den psychischen Prozess, der im Einzelnen und darüber hinaus gesellschaftlich wirkmächtig in der Wahrnehmung des Seienden angestoßen wird. (Die tieferen Künstler aus der Phase vor der Erfindung der Fotografie hatten schon immer diesen Schwerpunkt in ihrem Werk, er trat jedoch im Auge grobsinnigerer Menschen hinter der oberflächlichen Bewunderung der reproduktiven Leistung zurück.) Selbst die Künstler, die sich der Fotografie als Medium ihrer Kunst bedienten, gingen mit diesem neuen Anspruch an ihr Werk heran.
In der Folge wurde die Kunst abstrakter, da das wirklich abgebildete noch hinter der bewussten Wahrnehmung steht. Sie. Wurde auch tiefer. Natürlich kam es unter den Bedingungen einer alldurchwaltenden Vermarktung auch zu einer ganzen Menge von Elaboraten, die als „Kunst“ an eine wenig fühlbereite Zielgruppe verkauft wurden, aber das ist keineswegs eine moderne Entwicklung, sondern nur die Fortsetzung der früheren Auftragskunst der Mächtigen und Besitzenden mit moderneren Mitteln, auf dass diese damit ihren kindischen Drang zum Prahlen pflegen können. Betrachtet man den durch solche Schichtungen überdeckten Kern des künstlerischen Schaffens, so hat die Kunst durch den technischen Fortschritt viel gewonnen, weil sie zu einer Entwicklung angetrieben wurde. Jene Menschen, die von den „guten alten Zeiten“ schwärmen, in denen alle Maßstäbe ihren wenig lernfähigen Hirnen noch einleuchtend waren, zeigen mit solchem Reden nur, dass sie Stagnation für erstrebenswert halten.
Und nicht nur die hier als Beispiel genommene Fotografie hat der Kunst große Anregungen gegeben, jeder technische Fortschritt wurde auch zu einem Fortschritt für den möglichen Ausdruck in der Kunst, weil er von der Konzentration auf die Schwierigkeiten der Werkerstellung wegführte und zum Kern des künstlerisch Kommunizierten hinführte. Das gilt für den Film, der durch seine minutiöse Produzierbarkeit die Beschränkungen des Theaters überwand und doch erst ermöglichte, was das Theater versprach; es gilt für die Musik, die völlig neue Wege gehen konnte, es gilt für die Möglichkeiten zur digitalen Bearbeitung von Klängen, Filmen und Bildern, die bisher Unmögliches für einen Künstler erreichbar machten, bis hin zur fotorealistischen Erschaffung von künstlichen Welten, die nur als Modell in einem Computer existieren. Aber der vielleicht größte Fortschritt von allen ist die Demokratisierung der Kunst. Zum Einen ist sind technische Geräte, die sich zur Erstellung von Kunst benutzen lassen, preiswert verfügbar und somit ist jedem Menschen die Möglichkeit gegeben, künstlerisch tätig zu werden. Zum Anderen aber bringt es die digitale Reproduzierbarkeit der meisten Werke mit sich, dass das Werk aus dem musealen Kontext herausgenommen und wieder dorthin platziert wird, wo es seinen Ursprung hat und wo es eigentlich immer schon hingehörte: Im Leben der Menschen.
Dass unter Verwendung des Segens der bestehenden technischen Möglichkeiten neben vielem Großen auch so viel Nichtswertiges entsteht und mit teils hohem Aufwand vermarktet wird, hat seine Ursache nicht in diesen Möglichkeiten. Es ist. Ausgerechnet die Demokratisierung der Kunst und des künstlerischen Schaffens, die deutlich macht, dass es sich bei der Kunst um eine elitäre Tätigkeit handelt — und dass sich der Großteil der auf ihre Funktionsfähigkeit reduzierten Menschen darin bescheidet, sich ablenken und unterhalten zu lassen. Und selbst in dieser Hoffnungslosigkeit wirft der Fortschritt ein Licht, denn er macht es möglich und lässt es auch immer wieder einmal geschehen, dass auch jene Menschen einmal in ihrem Fühlen erreicht werden, die eine Bildzeitung dem Besuch des Museums vorziehen.