Archive for August, 2008


Der Fortschritt und die Kunst

Für die Kunst war die Erfindung der Fotografie ein großer Glücksfall. Nicht nur, weil ihr ein weiteres Medium für den künstlerischen Ausdruck gegeben wurde. Sondern auch. Weil es nun nicht mehr als das Wesentliche in der Kunst verstanden werden konnte, wenn ein zutreffendes Abbild der sichtbaren Wirklichkeit erstellt wurde, das sich „nur“ durch seine Komposition und eine ästhetisch motivierte Auswahl des Abgebildeten über die Alltagserfahrung erhob. Denn diese Leistung konnte besser durch eine maschinelle Vorrichtung erbracht werden, und die industrielle Fertigung von Fotoapparaten und Filmen sowie die Errichtung einer Infrastruktur zur massenhaften Anfertigung von Filmen und Abzügen brachte es mit sich, dass eine solche Leistung heute jedem Menschen zur Verfügung steht — auch noch dem größten Dilletanten, der unbeleckt von jedem Streben nach Qualität den dumpfen Lüsten seines Lebens folgt und dabei unentwegt Hochzeiten, Geburtstage, Urlaubspalmen und Scheinereignisse der Inhalte-Industrie knipst, um solch Abrieb eines Konsumentenlebens in großen Alben zu vergraben.

Zusammen mit diesem Fortschritt trat eine qualitative Veränderung in der Kunst ein, die noch nicht abgeschlossen ist. Die Frage, ob ein Werk ein zutreffendes Abbild der physikalischen Wirklichkeit sei, interessiert zwar noch den Banausen in seiner kitschduseligen Geschmacksverirrung, aber nicht mehr den Künstler, der in der Regel mehr will, als mit beschränkten, menschlichen Mitteln im Spiegel seiner Psyche die Leistung einer unermüdlich den Naturgesetzen folgenden Maschine nachzuäffen. Zum Thema jeder Kunst, die einen solchen Namen verdient, wurde immer weniger die objektiv zutreffende Reproduktion des Seienden und immer mehr der Fingerzeig auf den psychischen Prozess, der im Einzelnen und darüber hinaus gesellschaftlich wirkmächtig in der Wahrnehmung des Seienden angestoßen wird. (Die tieferen Künstler aus der Phase vor der Erfindung der Fotografie hatten schon immer diesen Schwerpunkt in ihrem Werk, er trat jedoch im Auge grobsinnigerer Menschen hinter der oberflächlichen Bewunderung der reproduktiven Leistung zurück.) Selbst die Künstler, die sich der Fotografie als Medium ihrer Kunst bedienten, gingen mit diesem neuen Anspruch an ihr Werk heran.

In der Folge wurde die Kunst abstrakter, da das wirklich abgebildete noch hinter der bewussten Wahrnehmung steht. Sie. Wurde auch tiefer. Natürlich kam es unter den Bedingungen einer alldurchwaltenden Vermarktung auch zu einer ganzen Menge von Elaboraten, die als „Kunst“ an eine wenig fühlbereite Zielgruppe verkauft wurden, aber das ist keineswegs eine moderne Entwicklung, sondern nur die Fortsetzung der früheren Auftragskunst der Mächtigen und Besitzenden mit moderneren Mitteln, auf dass diese damit ihren kindischen Drang zum Prahlen pflegen können. Betrachtet man den durch solche Schichtungen überdeckten Kern des künstlerischen Schaffens, so hat die Kunst durch den technischen Fortschritt viel gewonnen, weil sie zu einer Entwicklung angetrieben wurde. Jene Menschen, die von den „guten alten Zeiten“ schwärmen, in denen alle Maßstäbe ihren wenig lernfähigen Hirnen noch einleuchtend waren, zeigen mit solchem Reden nur, dass sie Stagnation für erstrebenswert halten.

Und nicht nur die hier als Beispiel genommene Fotografie hat der Kunst große Anregungen gegeben, jeder technische Fortschritt wurde auch zu einem Fortschritt für den möglichen Ausdruck in der Kunst, weil er von der Konzentration auf die Schwierigkeiten der Werkerstellung wegführte und zum Kern des künstlerisch Kommunizierten hinführte. Das gilt für den Film, der durch seine minutiöse Produzierbarkeit die Beschränkungen des Theaters überwand und doch erst ermöglichte, was das Theater versprach; es gilt für die Musik, die völlig neue Wege gehen konnte, es gilt für die Möglichkeiten zur digitalen Bearbeitung von Klängen, Filmen und Bildern, die bisher Unmögliches für einen Künstler erreichbar machten, bis hin zur fotorealistischen Erschaffung von künstlichen Welten, die nur als Modell in einem Computer existieren. Aber der vielleicht größte Fortschritt von allen ist die Demokratisierung der Kunst. Zum Einen ist sind technische Geräte, die sich zur Erstellung von Kunst benutzen lassen, preiswert verfügbar und somit ist jedem Menschen die Möglichkeit gegeben, künstlerisch tätig zu werden. Zum Anderen aber bringt es die digitale Reproduzierbarkeit der meisten Werke mit sich, dass das Werk aus dem musealen Kontext herausgenommen und wieder dorthin platziert wird, wo es seinen Ursprung hat und wo es eigentlich immer schon hingehörte: Im Leben der Menschen.

Dass unter Verwendung des Segens der bestehenden technischen Möglichkeiten neben vielem Großen auch so viel Nichtswertiges entsteht und mit teils hohem Aufwand vermarktet wird, hat seine Ursache nicht in diesen Möglichkeiten. Es ist. Ausgerechnet die Demokratisierung der Kunst und des künstlerischen Schaffens, die deutlich macht, dass es sich bei der Kunst um eine elitäre Tätigkeit handelt — und dass sich der Großteil der auf ihre Funktionsfähigkeit reduzierten Menschen darin bescheidet, sich ablenken und unterhalten zu lassen. Und selbst in dieser Hoffnungslosigkeit wirft der Fortschritt ein Licht, denn er macht es möglich und lässt es auch immer wieder einmal geschehen, dass auch jene Menschen einmal in ihrem Fühlen erreicht werden, die eine Bildzeitung dem Besuch des Museums vorziehen.

Zielgruppengerecht

Vor einigen Tagen durfte ich zu meiner eigenen Überraschung feststellen, dass die Rechtschreibprüfung von Microsoft Word das doch recht selten verwendete und einer eher verruchten Umgangssprache entsprungene Verb „übertölpeln“ kennt. In der Aufnahme dieses Wortes in die Wörterbücher des Office-Paketes von Microsoft spiegelt sich die Entscheidung wider, dieses Programmpaket vor allem für die Benutzung durch Kaufleute vermarkten zu wollen. Das Verb „übertölpeln“ entspricht zwar nicht der gewöhnlichen Sprache eines Geschäftsbriefes, aber sehr wohl dem allzu gewöhnlichen Wollen und Denken eines Kaufmannes, wenn er einen solchen Brief schreibt.

Flush

Immer, wenn ich das Wort „Fluch“ vor mir sehe, lese ich dort „Flush“, so sehr schneidet die Allgegenwart der Reklame fürs Pokern und allerlei Pokerangebote im Internet in das Gehirn…

Der Künstler als Marke

Bei Kunstwerken, die für hohe Preise am Markte gehandelt werden, wird die eine Frage sehr wichtig genommen, ob es sich dabei in der Tat um ein Werk desjenigen Künstlers handelt, dem dieses Werk zugeschrieben wird. Und wenn diese Zuordnung von Werk und Künstler einmal fraglich wird, denn wird ein hoher Aufwand an Expertisen und physikalischen Untersuchungen betrieben, um die Urheberschaft zu klären. Wenn es sich auch noch um ein Werk mit einer gewissen Bekanntheit handelt, können es solche Untersuchungen sogar in eine Presse bringen, die sich sonst um kulturelle Angelegenheiten nur wenig bekümmert.

Aber. Mit etwas Abstand betrachtet, könnte doch keine Frage unerheblicher sein.

Durch die sichere oder fragliche Zuordnung eines Werkes zu einem gewissen Urheber verändert sich am Werke nichts. Kein Pinselstrich verschiebt seine Lage oder seine Textur, kein Farbton beginnt im Farbkreise zu rotieren, keine Einzelheit wird intensiver oder unauffälliger; auch bleibt die Komposition als Ganzes genau so, wie sie dem Betrachter schon immer entgegentrat.

Die Klärung einer Frage nach der Urheberschaft hat also nichts mit dem Werk an sich und mit seiner inneren Qualität zu tun, sie geht somit am Werke völlig vorbei. Nicht vorbei geht sie jedoch am Markt und am darin entstehenden Marktwert des Werkes, worin recht deutlich wird, dass sich auch im Bereiche der vermarkteten Kunst der Marktwert eines Werkes von jeder inhaltlichen, ästhetischen und qualitativen Betrachtung emanzipiert hat, was das Barbarische des Marktes, das Aushandeln von Preisen im steten Bemühen des Kaufmannes, einen eigenen Vorteil durch Übertölpeln des Anderen zu erschleichen, auch in eine Sphäre trägt, die in ihrem Selbstanspruch gern so tut, als sei sie eine Bastion zivilisierten und kultivierten Strebens nach Feinsinn. Der Name des Künstlers verkommt im Prozesse der Vermarktung seiner Werke — nachdem erst einmal die Zuordnung eines Werkes zu seinem Urheber gesichert ist — zu einem bloßen brand, einer Marke, die einen Markenfetisch des scheinbar kultivierten Banausentums bedienen soll, der in seinem Gepräge vollständig dem Fetisch synthetischer, reklametechnisch erzeugter Marken für industrielle Massenprodukte entspricht. Das Schaffen des Menschen in der Kunst ist unter dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozess in der gleichen Weise beschädigt wie jedes andere Mensch-Sein auch. Die Idee des Marktes und die im Zuge dieser Idee erblühten, parareligiös anmutenden Mechanismen dringen noch in jede Nische, in der sich Menschen einen psychischen Lebensraum abseits der völligen Vermarktung allen menschlichen Schaffens sichern wollen. Im materialistischen Religionsersatz des totalitären Marktes gibt es keinen anderen Wert als den Marktwert, alles Menschliche steht zum Ausverkauf offen.

Fluch

Mögest du in die Hölle fahren, die du im Leben anderer Menschen ausbreitest!

Manchmal, vor allem, wenn bei der Demokratiesimulation in Form einer Wahl die Beteiligung der Menschen so gering geworden ist, dass sich der Zerfall jeder „demokratischen“ Legitimation des gegenwärtigen Machtsystemes beim bloßen Hinschauen zeigt, macht das Wort von der „Politikverdrossenheit“ die Runde durch die kommentierenden und dabei doch so wenig reflektierenden Massenmedien.

Dieses Wort. Ist ziemlich falsch.

Nicht von „der Politik“ sind die Menschen in der BR Deutschland immer verdrossener, sondern von den in der politischen Kaste eingefahrenen, radikal undemokratischen Mechanismen, die eine gegen die Mehrzahl der Menschen im Lande gerichtete Politik erst möglich machen. Und. Die es für den Einzelnen fast aussichtslos erscheinen lassen, irgendeinen Einfluss zu nehmen. Da hilft es auch nicht, wenn zum Schein einer „Volksherrschaft“ das gleiche „politische“ Programm unter fünf verschiedenen Parteinamen gewählt werden kann.

Ich muss für das Folgende etwas weiter ausholen.

Seit ich mich für die persönliche Kommunikation des Internet bediene, bin ich es gewohnt, mich mit EMail mitzuteilen. Es ist ein günstiges, nützliches und schnelles Medium, dass eigentlich nur Vorteile hätte, wenn nur die Plage der Spam wieder erträglich würde.

Der Mail bediene ich mich sowohl für den eher privaten Austausch als auch für Anfragen und Mitteilungen gegenüber allen möglichen Institutionen. Wenn es nicht gerade um einen privaten Rahmen zu sehr kontrovers betrachteten Themenkreisen geht, bin ich es eigentlich auch gewohnt, auf jede Mail eine Antwort zu erhalten. Natürlich ist das in aller Regel nicht die Antwort, die ich mir wünschen würde; oft handelt es sich sogar nur um eine Eingangsbestätigung, auf die nichts weiteres mehr folgt. Aber gleich, ob ich mich vermittels Mail an das Bundespräsidialamt, an Siemens, an die Deutsche Telekom oder an Google wandte (das sind jetzt nur die Beispiele, die mir beim Schreiben sofort einfallen), ich erhielt immer eine Antwort darauf, wenn eben auch oft eine kalte und mechanische. Aber neben der wandkalten Erfahrung automatischer Beantwortung durfte ich auch immer wieder einmal die Erfahrung machen, dass sich ein Mensch auf der anderen Seite befindet, der sich mit einer solchen Mail auseinandersetzt und eine Antwort darauf formuliert.

Im Falle von Firmen und staatlichen Instutionen halte ich so etwas für einen zivilisatorischen Minimalstandard.

Am 24. April dieses Jahres veröffentlichte ich an dieser Stelle einen Offenen Brief an Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel. Hintergrund dieses Offenen Briefes war eine recht spektakuläre Aktion der Content-Industie, die sich ebenfalls mit einem Offenen Brief, der von zweihundert so genannten „Künstlern“ unterzeichnet wurde, an die Bundeskanzerlin wandte, um auf politische Entscheidungen im Sinne dieser Kopierindustrie Einfluss zu nehmen.

Dass dieser Offene Brief der Content-Industrie bei Frau Merkel „angekommen“ war, konnten die Menschen in Deutschland schon einen Tag später im Podcast der Kanzlerin erleben. Sie nahm nämlich dazu recht wohlwollend und ohne ein Wort des Einwandes oder der Besinnung Stellung.

Mein Offener Brief in Reaktion auf diese Unverschämtheit der Content-Industrie ist zusammen mit meinen dazu gegebenen Erläuterungen in diesem Blog archiviert, und jeder kann sich selbst davon überzeugen, dass er bei aller Entschiedenheit in der Sache höflich, sachlich und frei von unangemessenem Sprachgebrauch ist. Natürlich habe ich diesen Brief auch mit meinem richtigen Namen unterzeichnet, mit einem Hinweis auf den Ort seiner Veröffentlichung im Internet versehen und unter meiner richtigen Mailadresse an das Bundeskanzleramt gesandt.

Das war am 24. April dieses Jahres. Es ist jetzt 125 Tage her.

Ich bin wirklich nicht davon ausgegangen, dass ich innerhalb eines Tages eine Antwort erhalte. Das ist bei jeder deutschen Behörde am Wochenende undenkbar.

Um so eine prompte Antwort zu erhalten, dass ein Thema trotz des Wochenendes schon am nächsten Tag im Podcast der Kanzlerin aufgegriffen wird, muss man wohl mit der Stimme einer geldmächtigen Industrie sprechen können und es sich leisten können, ganzseitige Anzeigen in großen, überregionalen Zeitungen zu schalten. Einem „einfachen Menschen“ in der BRD steht so viel politische Beflissenheit von Seiten der Kanzlerin nicht zu. Er hat ja auch kein Geld, mit dem er Macht ausüben kann; und deshalb ist er unbeachtlich.

Aber ich bin sehr wohl davon ausgegangen, dass ich irgendeine Antwort erhalte. Eine Antwort mit dem ungefähren, vom passiven Modus des typischen Behördendeutschs geprägten Ton „Sehr geehrter Herr Schwerdtfeger, ihre Mail ist bei uns eingegangen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir nicht jede Mail beantworten können und dass es aufgrund unseres hohen Mailaufkommens zu Verzögerungen in der Bearbeitung kommen kann. Ihre Anregungen wurden an die zuständige Stelle weitergeleitet.“ — das ist es, was ich von einer deutschen Behörde erwarte, bevor meine zu Text gewordene Stimme unbeachtet in den virtuellen Mülleimer wandert.

Ein Minimalstandard der Zivilisation eben.

Und genau dazu ist es nicht gekommen.

Ich hatte mit einer Antwortzeit von etwa zwei Wochen gerechnet. Das Thema ist ja doch dazu geeignet gewesen, zu polarisieren und viele Reaktionen zu provozieren, und für dementsprechend groß habe ich das Mailaufkommen im Kanzleramt gehalten.

Als nach vier Wochen immer noch keine Antwort da war, nicht einmal eine schlichte, kalt formulierte Eingangsbestätigung, hatte ich mich damit abgefunden, dass Mails aus der Bevölkerung dieses Staates einfach ignoriert und wohl irgendwann gelöscht werden. Und das in der deutschen Regierungbehörde, die auf der anderen Seite eine hingebungsvolle und werbewirksame Online-Arbeit macht, einschließlich wöchentlichen Podcast mit der Kanzlerin und einer speziellen Website, die schon Kinder an die Strukturen dieses Staates heranführen soll! Aber das ist eben Reklame, und die Wirklichkeit sieht immer anders aus als die Reklame.

Ja, ich hatte es schon nach gut acht Wochen völlig vergessen. Es passte so gut in das Bild, das ich von der gegenwärtigen politischen Kaste dieses Staates habe, dass es für mich keinen weiteren Gedanken mehr wert war. Und ich hätte mich wohl nicht mehr daran erinnert.

Ja, wenn mich nicht heute ein Jemand äußerst vorwurfsvoll und mit heißer Schärfe gefragt hätte, warum ich denn nicht politisch tätig sei, warum ich nicht die zur Verfügung stehenden Mittel verwende; und wenn dieser tiefgläubige Jemand dies nicht um die unterschwellige und doch sehr fühlbare Aufforderung ergänzt hätte, so, wie ich jetzt agiere, solle ich doch gleich meine Schnauze halten. Da hat dieser Jemand eine prächtige „Argumentation“ gefunden, einen anderen Jemand — nämlich mich — für völlig unbeachtlich zu erklären und sich als zusätzliches Leckerli zur Abfütterung seines eigenen Narzißmus auch noch seine eigene Passivität als etwas „politisches“ oder gar „engagiertes“ zu verkaufen. Der Selbstbetrug der Menschen ist die Stütze jedes menschfernen Regimes, nicht nur in der BR Deutschland. Und. Der deutsche Stammtisch ist der heilige Altar des Selbstbetruges, auf dem die Menschen ihr mögliches Leben dem Suff und der Bequemlichkeit opfern.

Wenn ich das heute nicht so intensiv erlebt hätte, wäre mir der ganze Vorgang wohl nie wieder eingefallen.

Und. Auf diesem, heute frisch erlebten Hintergrund finde ich durchaus, dass es einen kleinen Rückblick und einen etwas längeren Text wert gewesen ist.

Auch, um jedem verständlich zu machen, wo diese viel beschworene „Verdrossenheit“ eigentlich herkommt und welche Zustande und Institutionen diese Verdrossenheit mit welchen Methoden hervorrufen. Dann wird vielleicht auch klar, wem diese „Verdrossenheit“ gilt. Und auch. Wo sie hinführen kann.

Damit das nicht in Vergessenheit gerät, wenn die nächste desaströse Wahlbeteilung und das nächste 15-Prozent-Ergebnis für die NPD von den Kommentatoren des quasi-staatlichen Fernsehens mit dem Wetter und der Arbeitslosigkeit wegerklärt wird.

Mit fröhlichem Gruß an Peter

Obama

Zeitgenosse: „Sag mal, was hältst du von Obama? Ist es nicht toll, dass in Amiland auch mal ein Schwarzer Präsident werden kann?“

Nachtwächter: „Die Hautfarbe eines Kandidaten für den US-Präsidenten ist mir egal. Ich bin kein Rassist. Es ist mir auch egal, wer dort demnächst Präsident wird; es ist auch noch lange nicht entschieden. Ich betrachte es eher desinteressiert aus der Ferne, aber ich verstehe genug vom gegenwärtigen politischen System in den USA, um zu wissen, dass jemand bei den Wahlen zum Präsidenten nur dann eine Chance hat, wenn er öbszön reich ist. Wenn der erste Bettler US-Präsident wird, dann fange ich vielleicht damit an, mich dafür zu interessieren, weil das ein Zeichen des Wandels wäre. Mit einer sündteuren Werbekampagne, aus tausend Händen fließender Spam im Internet und gekonnten demagogischen Reden in der geistlosen Atmosphäre eines Popkonzertes kann man zumindest bei mir keinen Eindruck von Veränderung erwecken, eher schon einen von Konstanz.“

Sonnentraum

Es muss ein sozialer Nachhall einer vergangenen Zeit sein, dass Menschen ihre Hautfarbe so aussehen lassen wollen, als könnten sie sich einfach so regelmäßig der Sonnenstrahlung aussetzen. Ein Nachhall aus der Zeit, in der es ein Zeichen eines gewissen Wohlstandes war, wenn sich jemand einen Urlaub in den sonnigeren Regionen der Welt leisten konnte und die Verfärbung der Haut als Dokumentation eben jenes Wohlstandes durch die Straßen trug; ein Statussymbol, das sichtbar und prahlend dem Körper aufgestempelt war. Heute ist es kein Statussymbol mehr, nur noch ein sozialer Zwang, der sich dem einzelnen aufdrückt, um von ihm bei allem beschädigten Dasein wenigstens noch eine „gesunde“ Hautfarbe zu fordern, die an Stelle seiner natürlichen treten soll. Ein Statussymbol ist es schon lange nicht mehr, und der Traum von einem besseren und ansatzweise würdigen Leben…

Reklameschild: Sun Dream

…kann im dumpfen Dösen unter der Bestrahlung bläulich leuchtender Röhren geträumt werden. Das Angebot solcher Röhren. Ist aus dem Bild noch der trübesten Viertel deutscher Städte gar nicht mehr wegzudenken, ein ganzer neuer Mittelstand schlürft seine Gewinne aus der gesellschaftlich verursachten Geisteskrankheit. Noch in der nächtens beleuchteten Außenwerbung der so genannten „Sonnenstudios“, in der darin unvermeidlichen, mit anthropomorphen Gesichtszügen, fettem Grinsen und Sonnenbrille verzierten Sonne, spiegelt sich die weitgehende Lichtlosigkeit eines Daseins wider, das solche Angebote allzu bereitwillig anzunehmen bereit ist.

Das Werbeschild habe ich in Hannover-Stöcken fotografiert, es steht stellvertretend für hunderte andere seiner Machart.

Das War Dein Leben

Kaum etwas kann den Angstcharakter der gesamten christlichen Religion so schonungslos demaskieren, wie die Traktate, mit denen gewisse Fundamentalisten ihre Seelenernte einbringen wollen. Ein besonders abschreckendes Beispiel, das mir heute in die Hände fiel, ist ein kleines und billiges Heftchen im leicht rezipierbaren Comic-Stil mit dem Titel „Das War Dein Leben“.

An Stelle einer Beschreibung des darin Gesehenen verweise ich einmal auf die Online-Publikation dieses Traktates.

Anticineasten

In einem Raum mit laufendem Fernseher habe ich die Werbung mithören müssen, denn man kann zwar wegschauen, aber nicht weghören. Diese wirklich unerträgliche Werbung, die in die verflackernden Nächte hinein ihre gellen Anpreisungen brüllt und deren Macher sich wohl eine Verbesserung der Wirksamkeit dieses Hirnpfluges durch ständige Wiederholung versprechen. Dabei stolperte mein Ohr über ein Wort, wie es sich wohl nur ein Werber ausdenken kann. Das beworbene Produkt war eines der vielen unnützen Angebote für ein Mobiltelefon, die offenbar jugendliche „Zielgruppe“ sollte sich für einen Haufen nicht ganz transparenter Kosten Videos auf diese Telefone holen, die sich ja längst nicht mehr damit bescheiden, ihre Besitzer mit den wohl teuerst möglichen Diensten zum zwischenmenschlichen Austausch abzumelken.

So weit. Ist das der normale Wahnsinn, der so stumpf macht, der er kaum noch bewusst bemerkt wird. Was das Ohr stolpern ließ, war die Verdichtung dieses Wahnes in einem Worte. Was dort angeboten wurde, damit Menschen ihre Augen auf ein briefmarkengroßes Display an ihrem Telefon fixieren, es sollte ein „Handykino“ sein.

„Ganz großes Kino“ ist das freilich nicht… :mrgreen:

Tierkinder

Es ist doch erstaunlich, dass Menschen junge Tiere so unwiderstehlich niedlich finden. Das Kindchenschema wirkt auch noch bei artfremden Wesen, so fern sie noch wenigstens Wirbeltiere sind. Jungtiere anderer Gattungen lösen hingegen keine derartigen Emotionen beim Menschen aus; niemand fühlt so ein „Das ist ja niedlich!“ beim Anblick einer jungen Qualle oder der Larve einer Stechmücke.

Diese einfach zu machende Beobachtung zeigt auf, dass das emotionale Leben eines Menschen — das ja die meisten Menschen mit gutem Recht für einen Kern ihres Menschseins erachten — einem phylogenetischem Erbe entspringt, das in seinen Grundzügen von der gesamten Gattung der Wirbeltiere geteilt wird. Es gehört einer älteren Schicht des psychischen Erlebens an, liegt unterhalb des späteren, bewussten Überbaues, der einem Menschen alles Erlebte erst reflektierbar macht und es kann deshalb mit Hilfe einfach strukturierter Schlüsselreize auf mechanische Weise abgerufen werden. Genau das ist auch der Grund, weshalb dieses Muster in der Werbung für an sich sinnfreie Produkte so inflationär verwendet wird — kein Werber hat Interesse daran, die rein emotionalen Motivationen einer Kaufentscheidung für derartigen Tinnef in ein reflektierbares Bewusstsein dringen zu lassen.

Fitness Factory

Fitness Factory - Hildesheimerstr. 47 - keine Aufnahmegebühr - 19,90 € mtl.

Alles, was mich gruseln lässt, komprimiert sich zuweilen in einer einzigen Reklame am Straßenrand. Hier ist die Werbung einer „Fitness Factory“, die schon mit diesem Wort alles klar macht. Die Fitness — also das Maß der Anpassung an die Anforderungen, die an einen Menschen gestellt werden — ist ein Attribut, das ein Mensch erwerben kann, indem er sich kostenpflichtig in einer Fabrik „fitt“ machen lässt.

Gesehen in Laatzen bei Hannover