Archive for Februar, 2009


Vom Leben im Loch

Zeitgenosse: „Wie, du liest keine Zeitung? Warum denn nicht?“

Nachtwächter: „Auch, weil ich die Botschaft verstehe, die vom geometrischen Ausmaß der Zeitung ausgeht. Wie dick eine Zeitung ist, hängt nicht davon ab, wieviel Berichtenswertes auf der Welt geschieht, sondern nur davon, an welchem Wochentag die Zeitung erscheint. Die geforderte Dicke der Zeitung zeigt sich damit als eine selbstzweckhafte redaktionelle Forderung, die wichtiger ist als die Relevanz des Inhaltes für den Leser. Wenn es nicht genügend relevante Meldungen gibt, um die geforderte Dicke einer Ausgabe zu erhalten, wird der Inhalt dieser Ausgabe eben mit künstlichen und irrelevanten Meldungen angereichert. Die Menschen glauben, dass ‚Nessie‘ im Loch Ness in Schottland lebt, in Wirklichkeit lebt dieses Monster aber im jährlich wiederkehrenden Sommerloch für die Journaille.“

Kein Frieden

Die Begegnung mit der Gewalt lässt einem Menschen, der nicht neben sich stehen will, um zuzuschauen, wie er als Opfer der Gewalt agiert und sich dabei selbst fremd wird, nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder Flucht. Es gibt keinen Frieden mit der Gewalt.

Die Bedeutung

Die Bedeutung eines Buches steckt nicht im Papier und nicht in den Buchstaben; die Bedeutung eines Filmes steckt nicht in der Folge von Bildern, Szenen, Dialogen und Filmmusiken; die Bedeutung eines Musikstückes steckt nicht in den Akkorden, Klängen und Melodien. Die Bedeutung all dieser Erscheinungen entsteht im Bewusstsein während des Prozesses der Wahrnehmung und inneren Abbildung dieser kommunikativen Hervorbringungen. Bedeutung entsteht in einem überpersonalen Prozess. Desgleichen auch die Fehldeutung.

Die Stagnation des Denkens

Max Planck beklagte sich im Jahre 1949 über die konservative Ablehung neuer Ideen durch einen bedeutenden Teil der etablierten Wissenschaft mit den Worten: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit siegt nicht, indem sie ihre Gegner überzeugt und zum Licht führt, sondern eher weil ihre Gegner sterben und eine neue Generation heranwächst, der sie vertraut ist.“ Die beachtlichste Ergänzung zu dieser Feststellung leistete Alan L. MacKey mit den Worten: „Wie können wir überhaupt auf neue Ideen oder originelle Ansichten kommen, wenn neunzig Prozent aller Wissenschaftler, die je gelebt haben, noch nicht gestorben sind?“ Die Frage, ob MacKey damit der fühlbar genervten Aussage Plancks eher zugestimmt oder eher widersprochen hat, ist gar nicht so leicht zu entscheiden…

Der trockene Rausch

Jede wirksame Droge ist eine Substanz, die chemisch auf das Gehirn einwirkt und auf diese Weise das Bewusstsein verändert. Das ist der Rausch, der von einer Droge verursacht wird; und jedem dürfte klar sein, dass Räusche in aller Regel nicht vernünftiger machen. Aber keine Droge könnte wirken, wenn dieser Rausch nicht schon im Hirne als Reaktion auf körperliche Prozesse vorgesehen wäre, wenn er nicht in vergleichbarer Weise durch körpereigene Substanzen hervorgerufen werden könnte. Niemand glaube, dass ein derartiger „Trockenrausch“ geeigneter sei, Vernunftleistungen hervorzurufen als ein Rausch, der mit Hilfe von Drogen eingeleitet wird. Nicht nur die Geschichte der Religion ist eine Geschichte des trockenen Rausches voller süßwarmem Größenwahns als Flucht vor der ständigen Demütigung des Narzissmus in der Realität, auch sollte jedem Menschen der heutigen Zeit auffallen können, dass ein solcher „ekstatischer“ Rausch auch jedem nicht religiösen Menschen offensteht — und das gleiche Potenzial zum Siechtum der Sucht in sich trägt wie ein drogeninduzierter Rausch. Ob es die scharweis gröhlenden Schlachtenbummler der wöchentlichen Soap-Operas für Männer, der professionell aufgeführten Sportwettbewerbe, sind; ob es die Kaufräusche sind, in die Menschen angesichts des Angebotes verfallen und bei denen sie ihr Kaufverhalten zuweilen vollständig von ihren Bedürfnissen entkoppeln; oder ob es sich um den Rausch eines Verliebten an seinen eigenen Hormonen, ich spreche da gern von „körpereigenen Sexualtoxinen“, handelt — jeder dieser Räusche zeigt, dass ein Rausch ohne extern zugeführte Drogen möglich ist, ja, dass ein solcher Rausch oft wesentlich längerfristig den Verstand beeinträchtigt als ein Drogenrausch.

Die Manipulation durch Rhetorik bedient sich, so sie wirksam und geschickt ausgeführt wird, eines psychischen Materiales, das einen trockenen Rausch auszulösen vermag. Die Wirkung ist verheerend. Ganze Gesellschaften sind für die abstrakte Kopfgeburt eines Begriffes wie „Nation“ besoffen vor Begeisterung in den Krieg gezogen. Um sich davor zu schützen, ist es durchaus wichtig, zu wissen, dass ein vollwertiger Rausch ohne Benutzung von Drogen induziert werden kann. Demnächst wird es hier eine Bundestagswahl mitten in einer für viele Menschen beängstigenden Krise der gesamten Gesellschaft geben, und in den PR-Abteilungen der antretenden Parteien suchen schon recht kompetente Menschen nach Material, mit dem wirksame Räusche erzielt werden können, die dann zu einer wenig vernünftigen Entscheidung bei der Wahl führen sollen — denn argumentativ geht man beim Verkauf der Politik an das Volk schon lange nicht mehr vor.

Traum und kollektiver Wahn

So lange nur einer träumt, bleibt es ein Traum. Jeder weiß um die „Substanz“ eines Traumes, der dann entstehen kann, wenn sich die Aufmerksamkeit eines Menschen von der Außenwelt entkoppelt und den inneren, psychischen Quellen zuwendet — auch die so genannten „Tagträume“ fügen sich in dieses Muster. Niemand misst einer solchen, vom Narzissmus hervorgebrachten Halluzination eine Wirklichkeit zu, die eine gesellschaftliche Verbindlichkeit hervorruft.

Wenn aber viele Menschen den gleichen Traum haben, denn wird der Inhalt dieses Traumes von den Menschen für etwas wirkliches gehalten. Und. Diese Menschen fordern auch von anderen Menschen Teilhabe an diesem Traum, gleich, um welche narzisstische und meist größenwahnsinnige Illusion es sich dabei auch handeln mag.

Die überlieferte Geschichte und die Gegenwart lehren, dass die in solchem überpersonalen Prozess entstehenden Bedingungen immer etwas albtraumhaftes in sich tragen. Wer es merkt, der wache auf!

Schau zweimal

Gegen die „Liebe auf dem ersten Blick“ gibt es ein wirksames, aber viel zu selten angewendetes Mittel: Den zweiten Blick.

Das Ungeheuer des Universums

Das Universum hat vier Eigenschaften, die dem Menschen nicht geheuer sind. Dieses Ungeheure am Universum führt zu einem psychischen Widerstand im Denken, der sich lähmend auf die Einsicht auswirkt und der angesichts der jetzigen und in Kürze kommenden Aufgaben der Menschheit von jedem einzelnen Menschen überwunden werden muss.

Zunächst ist das Universum homogen. Überall im Universum geschehen alle Ereignisse nach den gleichen Regeln. Es ist im Gegensatz zum (vielleicht nirgends existierenden, aber in jedem Fall unbegreiflichen) Chaos ein Kosmos; ein geordneter Bereich, dessen Ordnungsprinzipien uns sogar teilweise verständlich sind. Gäbe es auf einem fernen belebten Planeten eine dortige Entsprechung von Issac Newton und Apfelbäume, denn könnte dieser Newton auch dort die Äpfel zu Boden fallen sehen, und die Geschwindigkeit, in der die Äpfel fielen, hinge in einer Weise von der Masse jenes Planeten und vom Luftwiderstand des Apfels ab, die für uns so weit durchschaubar wäre, dass wir bei Kenntnis dieser Parameter die Geschwindigkeit ausrechnen könnten. Es gibt keinen Ort im Universum, in dem andere Regeln als die uns erkennbaren wirken, kein Ort ist durch eine abweichende Ordnung privilegiert. Das ist dem Menschen nicht geheuer, denn er hält den Ort seines Seins für etwas Besonderes, er hält das Zentrum seiner Wahrnehmung für die einzige wirkliche Existenz.

(Die Frage, ob die vom äußeren Universum völlig abgeschirmten Schwarzen Löcher sich in diese Betrachtung fügen, ob sie überhaupt zum Universum zu zählen sind, sie lässt sich für uns allerdings zurzeit nicht beantworten. Sie ist eine sowohl philosophisch als auch physikalisch harte Nuss. Da aber der Raum jenseits des Ereignishorizontes eines Schwarzen Loches ein Ort ohne die Möglichkeit einer Rückkehr in das äußere Universum ist, fügt dieses Unwissen der Betrachtung keinen allzu großen Schaden zu.)

Ferner ist das Universum isotrop. Von jedem Punkt im Universum aus betrachtet ergibt sich im Großen und Ganzen — Pedanten lesen hier: im statistischen Mittel — der gleiche Eindruck. Die Galaxien und die von ihnen gebildeten größeren Strukturen sind in jeder Richtung gleichmäßig verteilt, ebenso die unermesslichen Leerräume zwischen diesen Ansammlungen sichtbarer Materie. Der Blick geht auch von jedem Punkt aus in jede Richtung gleichermaßen weit in die Ferne. Obwohl das Universum nicht unendlich groß ist, verfügt es über keinerlei Mittelpunkt oder einen anderen privilegierten Ort. Auch das ist dem Menschen nicht geheuer, denn er sieht sich stets im Zentrum seiner eigenen Wahrnehmung und lässt sich diese Illusion seiner Wahrnehmung allzu gern gefallen.

(Die nahe liegende Frage, wie eine solche Eigenschaft entstehen kann, wenn das Universum doch nicht unendlich ist, lässt sich zwar leicht durch den Verweis auf eine Krümmung des gesamten Universums beantworten, aber nur schwer verbildlichen. Die beste Antwort scheint mir eine Gegenfrage zu sein: Wo hat denn die Erdoberfläche ihren Mittelpunkt? Schon die Einsicht, dass es einen solchen privilegierten Ort auf der Erdoberfläche nicht gibt, hat den Menschen nicht geschmeckt, und sie hat sich nur gegen Widerstände durchgesetzt, die zum Teil bis heute sprachliche und damit psychische Kraft entfalten, wenn etwa von einer „Himmelskuppel“ oder einem „Sonnenaufgang“ die Rede ist, im Widerspruch zu Tatsachen, die jedem Zwölfjährigen geläufig sein sollten.)

Die dritte ungeheure Tatsache über das Universum ist die Expansion; der Fakt, dass sich das gesamte Universum unablässig räumlich ausdehnt und dass diese Ausdehnung einen Anfang hatte. Vor diesem Anfang existierte nichts, was im Universum erkennbar ist. Uns ist nicht einmal der Grund erkennbar, aus dem heraus diese Ausdehnung begann, oder, um es etwas plumper zu formulieren, warum überhaupt Etwas existiert und nicht einfach Nichts. Die Bedingungen, die diese Ausdehnung beginnen ließen, sind ein unwissenbares Mysterium, denn die Regeln des verständlichen Kosmos begannen erst mit dieser Ausdehnung und hatten vorher keine Existenz. Während wir Menschen es im Denken gewohnt sind, alle verständlichen Erscheinungen als Auswirkung von teils komplex zusammenwirkenden Ursachen zu verstehen, stehen wir am Anfang dieser alles durch den Kosmos und die Zeit verbindenden Kette von Ursachen vor einem plötzlichen, unverursachten und damit auch sinnlosen Erscheinen, das außerhalb des kosmischen Gefüges steht. Diese fundamentale Einschränkung jeder noch so hoch entwickelten Einsichtsfähigkeit ist für den Denkenden äußerst unbehaglich und wird deshalb auch so gern verdrängt.

(Einige Menschen nehmen dies zum Anlass, das unüberwindliche Unwissen durch einen psychologischen Kunstgriff abzuwehren, indem sie den archaischen Gottesbegriff zur Hilfe nehmen und Gott zur Ursache aller Dinge erklären. Das Konzept ist nicht nur deshalb fragwürdig, weil es als reine Verschiebung des Unwissens die Frage nicht beantworten kann, wer oder was denn diesen Schöpfergott hervorgebracht hat oder wie er sich vielleicht selbst geschaffen hat. Diese Menschen verzichten auch darauf, die Konsequenz dieses Kunstgriffes zu bedenken. Wenn ein Gott als außerkosmische Entität agiert, denn hat dieser Gott innerhalb des dabei entstandenen, geordneten Kosmos keinen Raum und damit auch keine Existenz. Er wäre den im Kosmos gebundenen denkenden „Kohlenstoffeinheiten“ etwa so fern wie eine hypothetische Welt, in der eins plus eins dreiundzwanzig ergibt oder in der aus dem Nichts Materie entstehen kann. Wer Gott außerhalb des Kosmos ansiedelt, lässt ihm in jenem Kosmos, in dem wir leben, Wohnungsnot leiden, spricht Gott jede Form der Existenz ab, die für uns irgendeine Konsequenz haben könnte — und ein solcher Gedanke wäre jedem Menschen, der mit Gott „argumentiert“, doch nicht erwünscht.)

Die vierte ungeheure Tatsache ist die Existenz einer kosmischen Höchstgeschwindigkeit. Kein Ding, keine Information, keine Energie kann sich schneller als mit der Geschwindigkeit des Lichtes im Vakuum durch den Raum bewegen, und eine mit Masse behaftete Materie kann nicht einmal diese Geschwindigkeit erreichen. Diese Einschränkung widerspricht der verbreiteten und gebildet verkleideten, aber kindischen und unwissenden Wahnidee eines unbegrenzten exponentiellen Wachstums, die zum Beispiel zurzeit die Grundlage das menschlichen Wirtschaftens und des auf Zinseszins-Dynamik basierenden, menschlichen Geldsystemes bildet. Denn ein durch die Zeit fortgesetztes exponentielles Wachstum benötigte eine im Fortschreiten der Zeit exponentiell wachsende Menge an Energie, während selbst noch die bestdenkbare Technik innerhalb des Kosmos ihre energetischen Ressourcen aus einem höchstens mit der dritten Potenz der Lichtgeschwindigkeit anwachsenden Bereich des Raumes entnehmen könnte. Selbst unter optimalen Bedingungen führt jede Dynamik auf der Grundlage exponentiellen Wachstums zum Erreichen einer Grenze und somit zu einer Krise — im Bezug auf die Menschheit wird diese Krise mörderisch sein, und diese Einsicht ist die am stärksten verdrängte Einsicht des gegenwärtigen Erkenntnisstandes der Menschheit.

(Unsere weit hinter dem Optimum zurückbleibenden technischen Möglichkeiten werden schon lange vor dieser theoretischen Grenze zur Krise führen, da wir damit nur auf die energetischen Ressourcen unseres Planeten zugreifen können, die sich sehr viel schneller erschöpfen werden. Mörderisch wird die dabei entstehende Krise dennoch sein.)

Wenn die Menschen doch nur angesichts der Ungeheuerlichkeit des Universums bescheiden und demütig würden!

(Ihre psychologische Konstruktion eines Gottes hat in diesem Punkte jedenfalls auf ganzer Linie versagt. Wer das nicht glaubt, lese die Nachrichten! Die Gottesidee ist nur ein historischer Kunstgriff, um den dummen Narzissmus des Menschen heilig zu sprechen und ist deshalb zu verwerfen.)

Die Toten und die Lüge

Wenn man eine Zeitung aufschlägt und die Familienanzeigen betrachtet, einen Blick darüber schweifen lässt, wer alles so gestorben ist und was diesen Toten wie eine verwelkte Blume als kleiner Nachruf in substanzlosen, zur kalten Formelhaftigkeit erstarrten Phrasen hinterher geworfen wird, denn liest man darin nur von fürsorglichen Müttern, lieben Vätern, geschätzten und zuverlässigen Kollegen, die allesamt völlig unerwartet und in der Regel viel zu früh aus unsere Mitte gerissen wurden. Es ist eine Auflistung alljener Chraktereigenschaften, die man bei den ganzen Lebenden schmerzlich vermisst. Der Denkende fragt sich unwillkürlich, wann endlich die ganzen Halunken und Kaltherzen sterben, die doch den Alltag der Lebenden viel deutlicher prägen… :mrgreen:

Du darbst!

Seid ihr denn auch so unverständig? Merket ihr nicht, daß alles, was von außen in den Menschen eingeht, ihn nicht unrein machen kann? Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, und geht aus durch den natürlichen Gang.

Jesus aus Nazaret zugeschrieben, Mk, 7, 18-19

Die nährstoffreduzierten Nahrungsmittel, die bis hin zur Halbfettbutter und zum fettfreien Käse gehen; die verhungert aussehenden Menschen in einer Bedingung des Überflusses, bei denen sich schwere psychische Defekte am eigentlich lustvollen Vorgang des Essens gebunden haben; die Neigung vieler Menschen, zu sparen, indem sie sich Ekles und Billiges zum Essen kaufen; sie sind ein Beleg dafür, dass sich die religiöse Praxis der Selbstkasteiung durch Askese auch unabhängig von einer Religion im üblichen Sinne betreiben lässt. Die innewohnende Gottlosigkeit des Konsumismus ist für seine Anhänger kein Schutz vor Dummheit und Aberglauben, und selbst die gemeine Sprache reflektiert noch das Irrationale, wenn sie gehaltvolle und leckere Speisen als „Versuchung“ und „Sünde“ bezeichnet.

Zwei Dinge freilich haben sich bei aller Kontinuität des Hungerns verändert: Erstens beträgt die Dauer der Fastenzeit des neuen Kultes nicht mehr einen Monat und auch nicht vierzig Tage, sondern sie soll sich über 365 Tage im Jahr erstrecken. Und zweitens führt diese modern verpackte Askese nicht etwa zu Kostenersparnissen, da man sich ja einschränkt, sondern sie führt zum Kauf spezieller, meist überteuerter Askeseprodukte, die durch Nichts sagende Zusagen wie „light“ oder „wellness“ gekennzeichnet werden.

Gleich geblieben ist jedoch der Aberglaube, dass die wenig vorteilhafte Haltung einer solchen Verweigerung gegenüber den Genüssen zu einem gewissen Segen führt, der im Wort von der „Gesundheit“ und in der mitschwingenden Vorstellung eines „verlängerten Lebens“ seinen Ausdruck findet — genau wie jede religiöse Haltung handelt es sich also um eine Abwehr der Todesangst. Wozu man aber ein Leben in ständiger Darbsal und „Anfechtung“ durch die nicht unterdrückbare Lust am Leckeren und Genussvollen leben soll, das wird von den Anhängern des Aberglaubens niemals bedacht.

Vom simulierten Tun und vom Keller

Sie hatte lange Zeit in der Verwaltung einer größeren Stadt gearbeitet, und sie blickt auf diese Zeit zurück. Sie erzählt, wie man sich dort am Arbeitsplatz verhielt, und wie absurd ihr das schon damals vorkam. Sie spricht davon, dass alle Kollegen und Kolleginnen am Rechner saßen und versuchten, den Eindruck zu erwecken, sie seien schwer mit irgendwelchen Aufgaben beschäftigt, auch wenn sie gar nichts zu tun hatten. Sie sagt, dass jeder Beteiligte, ja, selbst noch die Vorgesetzten darum gewusst hätten, dass es sich hier nur um simuliertes Tun handele. Aber wenn man sich dort während der Arbeitszeit einmal entspannt hinsetzte, so sagt sie, wenn für jeden sichtbar wurde, dass man gerade einmal nicht angespannt mit etwas beschäftigt sei, und wenn sich das öfter wiederholte, wurde es zur Quelle von sozialen Problemen. Sie fand es kindisch, so zu tun, als ob man etwas täte, und sie saß deshalb öfter entspannt herum und hätte diese kleinen Pausen im monotonen Bearbeiten von Papier auch durchaus genießen können. Aber, so sagt sie, dafür wurde sie von ihren Kollegen und Kolleginnen immer wieder scharf angegangen, wurde mit einem ätzenden Unterton in der Stimme gefragt, ob sie denn gar nichts zu tun hätte, nur weil man ihr eine kleine Pause ansah. Sie hatte Rückgrats genug, darauf immer wieder einmal zu erwidern, dass es doch recht kindisch wäre, wenn man stets so tun müsse, als ob man etwas täte; dass es nichtsnutzig sei und dass doch das Pensum der von ihr erledigten Arbeit für sich selbst spräche und jeden unausgesprochenen Vorwurf der Faulheit widerspräche.

Es war diese Art von Rückgrat, die sie zur Außenseiterin an ihrem Arbeitsplatz machte, zur gemiedenen Frau, so erzählt sie, zu einer Unperson, die aus dem gewöhnlichen menschlichen Miteinander ausgeschlossen wurde: Jemand, den man nicht mehr einlud, wenn es etwas zu feiern gab, ja, sogar jemand, den einige Kollegen und besonders Koleginnen nicht einmal mehr der höflichen Unverbindlichkeit eines Grußes am Morgen würdigten. Das nagte sehr in ihrer Seele, was ich gut verstand, denn ich kenne solche Situationen selbst. Und so fing sie an, sich völlig fehl am Platze zu fühlen; diverse „kleine“ Krankheiten mit eher diffuser Symptomatik wie anfallsartige starke Kopfschmerzen, Magenprobleme und eine wachsende Unfähigkeit, am Abend in den Schlaf zu finden, gesellten sich als somatische Begleitung zu diesem Fühlen. Natürlich wirkten sich diese — in einem langen Prozess der gefühlten Fremdheit und Vereinsamung entstehenden und sich verfestigenden — Krankheiten auch auf das erfüllte Arbeitspensum aus, und der anfänglich im bissigen Worten dünstelnde Vorwurf der Faulheit gewann dadurch eine gewisse materielle Substanz, schien zu einer zutreffenden Beschreibung ihres Wesens geworden zu sein.

Schließlich reagierte ihre direkte Vorgesetzte auf diesen Vorgang. Sie sollte fortan im Keller des Amtes arbeiten, fern von jedem „Kundenkontakt“ (ein verlogenes Wort für die Besucher einer Behörde ist das) und fern von allen Kollegen. Und, so sagte sie, daraufhin wurde es wirklich schlimm, und in einer Arbeitsumgebung, in der die heiteren Strahlen der Sonne durch das Flackern der Leuchtstoffröhren ersetzt wurden und in der niemand einen Kontakt zu „Kunden“ hat, kam es schließlich zu einer immer weiter gehenden inneren Entfremdung von ihr selbst. Die eher diffusen Krankheiten raubten ihr nach und nach einen immer größeren Anteil ihrer Lebenszeit, sie erzählte, wie sie immer stärkere Medikamente benötigte, um überhaupt noch schlafen zu können und wie sich ihre Krankheitszeiten immer mehr ausdehnten, bis ihr „ständiges Kranksein“, das ja zynisch als „nur psychisch“ bezeichnet und betrachtet wurde, schließlich immer wieder dazu führte, dass sie ihrer direkten Vorgesetzten spontan Rede und Antwort stehen musste, was zum Hohn auch noch als „Gespräch“ bezeichnet wurde. In Wirklichkeit ging es nicht um ein Gespräch, sondern sie sollte sich für die Unverschämtheit ihres Krankseins rechtfertigen, was sie natürlich nicht konnte, so dass sie stets in der Defensive war. Diese regelmäßige Demütigung ging so weit, dass jene große Angst vor dem nächsten Tag „auf Arbeit“ ihr Leben überschattete, die wohl schon vorher zu einer eher diffusen Krankheit geführt hatte. Dieser völlig sinnlose Stress führte in seiner täglichen Wiederholung schließlich zu einem vollständigen Zusammenbruch, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat — und kein Mensch in ihrer Umgebung hat dafür auch nur eine Spur Verständnis aufbringen können. Ihren ehemaligen Kollegen und Kolleginnen war dies übrigens gleichgültig, sie werden dort immer noch kalt sitzen und so tun, als ob sie angestrengt etwas täten, statt einfach die erquickende Freude einer kleinen, in der leidigen Routine entstehenden Pause für sich in Anspruch zu nehmen.

So kann es hier einem Menschen in Deutschland gehen, wenn er genug Charakter hat, nicht jeden Unsinn am Arbeitsplatz mitzumachen. Der überpersonale Prozess, der über einige Betriebe — gewiss nicht nur in der Verwaltung — abläuft, zermalmt jede Seele, die nur eine Spur von Widerspruch gegenüber dem Sinnlosen hat. Stumpfheit oder sozialer Abstieg, das ist die „Alternative“, vor der sich viele Menschen jeden Tag gestellt sehen.

Der Optimist

Zeitgenosse: „Glaubst du an die Wiedergeburt?“

Nachtwächter: „Nein, denn ich bin in meinem Innersten ein wahrer Optimist.“