Zeitgenosse: Warum interessierst ausgerechnet du dich dafür, wie Hannover 96 gespielt hat?
Nachtwächter: Weil ich mich nicht für Fußball interessiere.
Zeitgenosse: Denn könnte es dir doch egal sein. Aber nein, du fragst sogar noch danach. Und es gefällt dir offensichtlich gar nicht, dass die Roten gewonnen haben.
Nachtwächter: Stimmt. Es gefällt mir nicht, weil ich mich nicht für Fußball interessiere.
Zeitgenosse: Aber wenn du dich gar nicht für Fußball interessierst, was kann es dir denn bedeuten, wenn die Roten verlieren?
Nachtwächter: Ich möchte, dass diese so genannten „Roten“ absteigen; hinunter in die relative fußballerische Bedeutungslosigkeit. Damit ich mich nicht mehr mit Fußball beschäftigen muss. Im Moment muss ich das noch. Ein Weg, der hübsch und kurz ist und den ich deshalb häufig gehe, führt in der Nähe des Stadions vorbei, und wenn diese für mich völlig unwichtige Mannschaft ein Heimspiel hat, mache ich lieber einen großen Bogen um das Stadion, selbst, wenn das ein Umweg ist. Wenn ich zur falschen Zeit keinen großen Bogen um das Stadion mache, kommt mir eine hirnlose Horde brüllender, besoffener Barbaren entgegen; ein Mob entfesselter Spießbürger, voll von Gewaltbereitschaft gegen alles, was anders und weniger dumpf ist als sie selbst. Das ist mir schon einige Male passiert, und die Situation war mehrfach kurz vor einer Schlägerei — ich schätze so etwas gar nicht. Doch selbst, wenn es nicht so weit kommt, muss ich mir tonfreie Gesänge und die Beschimpfungen aus dieser enthirnenden Gruppendynamik anhören, nur weil ich offensichtlich anders bin. Damals, als Hannover 96 noch in der zweiten Bundesliga spielte, waren solche Situationen auch unerfreulich, aber wesentlich entspannter, da konnte mir der Fußball noch gleichgültig sein. Das liegt wohl daran, dass unter diesen Bedingungen überwiegend solche Menschen ins Stadion gingen, die sich wirklich für Fußball interessieren; nun überwiegen jedoch diejenigen Menschen, die vor allem individuelle Verantwortungslosigkeit unter Alkoholeinfluss in einem Gruppenprozess erleben wollen. Da ich den Frieden schätze, mache ich um solche Ansammlungen des Mobs einen möglichst großen Bogen. Und deshalb muss ich mich deshalb damit beschäftigen, wann es hier ein Heimspiel gibt, obwohl ich mich gar nicht für Fußball interessiere; und ich muss sogar einen Teil meines Lebens an dieser an sich völlig unwichtigen Information ausrichten, fast so, als würde auch ich mich für Fußball interessieren. Das widert mich an, und deshalb wünschte ich, es wäre anders.
Zeitgenosse: Aber die Roten sind doch die Mannschaft von Hannover, die spielen für uns. Da kann man solche Randerscheinungen doch mal dulden.
Nachtwächter: Wie viele Hannoveraner spielen denn in dieser Mannschaft mit? Ist diese Mannschaft nicht — wie jede Mannschaft in der Bundesliga — ein zusammengekaufter Haufen von Menschen, deren zuvörderste Funktion die von menschlichen Werbeträgern ist? Damit habe ich nichts zu tun, obwohl ich mich gerade in Hannover aufhalte.
Zeitgenosse: Sag mal, findest du nicht, dass du die Dinge manchmal etwas extrem und viel zu negativ siehst?
Nachtwächter: Es ist eben nicht alles relativ und es ist nicht alles leicht umkehrbar. Man kann eine ganze Kanne Sahne ungenießbar machen, indem man ein einziges Tröpfchen Jauche hineinträufelt. Aber man kann nicht eine Kanne voll Jauche mit einem Tröpfchen Sahne genießbar machen.