Tag Archive: Einsamkeit


Einsamkeit und Angst

Übrigens gabs gestern (die Störungen halten aber immer noch an) einen längeren Ausfall bei Fratzenbuch, Finster-Gram und WanzApp. Nach völlig unbestätigten Berichten aus unzuverlässigen Quellen haben jetzt schon viele Menschen Angst, dass die Zombieapokalpyse begonnen habe, weil ihr so genanntes „Smartphone“ schon seit Stunden nicht mehr in der Tasche gepiept und vibriert hat, um die Aufmerksamkeit von der gegenwärtigsten Gegenwart auf irgendwelche tröstlichen Trivialitäten zu ziehen. Diese Isolation muss ein schlimmes Gefühl sein…

„Social Media“ schafft genau die Einsamkeit, die zu bekämpfen es angepriesen wird.

Die Mächtigen und Herrschenden

Unsere Identität — wer und was wir sind und wie andere uns sehen — ist zu einem großen Teil damit festgelegt, welche Namen uns gegeben werden und mit welchen Wörtern wir etikettiert werden. Die Namen, Bezeichnungen und Ausdrücke, die verwendet werden, um Menschen damit zu ‚identifizieren‘, sie können letztendlich das Überleben der Menschen bestimmen.

Haig Bosmajian: The Language of Opression. Washington 1974

Zeitgenossin: Wer sind die Mächtigen? Wer sind die Herrschenden?

Nachtwächter: Die Mächtigen und Herrschenden sind jene Menschen, die definieren können, was schreibenswert, erhaltenswert, mitteilenswert ist. Es sind jene, an deren Definitionshoheit entschieden wird, was eine wichtige Nachricht ist, jene, die andere Menschen definieren können und mit den Mitteln und der Gewalt ausgestattet sind, diese Definition auch durchzusetzen, selbst dann noch, wenn sie sich beim bloßen Hinschauen als offensichtlich falsch erweist. Sie selbst, die Mächtigen und Herrschenden, können sogar als Personen hinter ihren Definitionen zurücktreten, und daher kommt dieser trügerische Schein der „Objektivität“ in den Nachrichten und in der Forschung, der so ein breites Blendwerk ist.

Zeitgenossin: Aber. Wenn das so ist, denn kann ich ja keiner gar Information mehr trauen.

Nachtwächter: Aber. Meine Schwester im Staub, du hast noch immer die Wirklichkeit — das ist jene, die wirkt — deines eigenen Lebens und deines unmittelbaren Umfeldes. Versuche, sie frei von den Definitionen der Herrschenden zu halten und sie mit der verfügbaren Kraft deines Bewusstseins einfach nur das sein zu lassen, was sie ist! Daran lernst du das Glauben, das Zweifeln und die Einsicht — und du lernst auch diese Einsamkeit kennen, in die hier jeder gestoßen wird, der sein Großhirn benutzt, statt es einfach in gewünschter Weise brach liegen zu lassen. Und. Versuche vor allem, die Struktur in dem zu erkennen, was gemäß der Definitionshoheit der Herrschenden nicht als schreibenswert, erhaltenswert, mitteilenswert erachtet wird. Unter der Herrschaft Josef Stalins in Russland waren unzählige Autoren und sonstige Inhaltsschöpfer damit beschäftigt, die Namen, Bilder und Zitate all jener, die unter Stalins Herrschaft in „Ungnade“ gefallen waren, aus allen in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Dokumenten zu entfernen, auf dass diese Menschen auch ja umfänglich vergessen werden, auf dass sich niemand mehr ihr Leben vorstellen könnte, von ihren Taten erzählen könnte, über ihre Gedanken nachdenken könnte oder in ihnen gar ein Vorbild für eigenes Denken und Handeln finden könnte. Schlag eine beliebige Zeitung auf oder mach deine Glotze an, und lass dich nicht von dieser Aufbereitung hypnotisieren und auch nicht ängstigen, sondern schau danach mit offenem Auge um dich, um Wirklichkeit zu sehen und mit dieser Aufbereitung abzugleichen! Und dann. Schau dir an, wessen Leben im Auswurf der Massenstanzen der Contentindustrie keine Spuren hinterlassen. Daran siehst du, welcher Menschen Existenz von den heutigen Herrschenden an das große Vergessen überantwortet werden soll. Und du. Wirst von selbst den richtigen Schluss daraus ziehen, zumal sich die Mächtigen und Herrschenden noch schwach und recht schemenhaft in dieser breiten Lücke spiegeln. Am schnellsten gelingt dies immer noch, wenn du im Verlaufe einer solchen Betrachtung feststellen musst, dass dein eigenes Leben von fremder Definitionshoheit in das Nichts geworfen werden soll.

Mit Gruß an Ilse. Kiff nicht so viel!

Platz!

Er ist zwei Köpfe kleiner als ich. Und. Er bettelt. Er ist einsam, denn das ist die Folge eines Lebens als gesellschaftlicher Außenseiter. Das ist wohl auch der Grund, weshalb seine Stimme einen Klang bekommen hat, der in gleicher Weise zynisch und aggressiv wie angenehm zurückhaltend ist. Der Jüngste ist er nicht mehr, aber das sieht man erst auf dem zweiten Blick.

Denn. Obwohl er einsam ist, ist er nicht allein. Er führt einen Hund mit sich, und das ist das Bemerkenswerte an dieser Begegnung. Denn neben seinem Hund. Wirkt er noch kleiner. Sein Hund ist eine riesen Deutsche Dogge, und man fragt sich bei diesem Anblick unwillkürlich, wo wohl die versteckte Kamera ist — zu surreal sieht die Szene aus. Aber es ist keine versteckte Kamera. Es ist Wirklichkeit.

Als er mich anbettelt, gebe ich ihm zu verstehen, dass ich selbst vom Betteln lebe; wir teilen eine Zigarette von meinen letzten Krümeln Tabak und ein paar warme Quäntchen Wort, von denen wir Herzen der Gosse oft zu wenig bekommen. Und irgendwann frage ich ihn zwischen Wetter und sporadischen Erlebnissen und Plänen und Taten und Träumen, wie er sich überhaupt mit einem so großen Köter durchschlägt, der doch wohl auch einen großen Hunger hat.

Die Antwort ist nur im ersten Moment verblüffend. Er braucht, so sagt er, den Hund, um die Wohnung halten zu können. Das Futter für den Hund ist niemals das Problem, denn der Metzger gibt dem Hund bereitwilliger als jedem Menschen das, was er nicht mehr verkaufen kann. Aber nicht nur der Metzger sei so gestrickt, setzt er fort, sondern alle geben ihm mehr beim Schlauchen, wenn er mit dem Hund an der Straße steht, ja, es reicht für die Bude und einen täglichen Bauchvoll. Er hat den Hund damals eigentlich nur von einem Bekannten genommen, der für längere Zeit ins Krankenhaus musste, weil er es nicht übers Herz brachte, dass dieser tolle Hund im Tierheim landet, und irgendwie schlägt man sich ja immer durch. Doch dann entdeckte er sehr schnell, dass es sich mit dem Hund müheloser und besser bettelt, dass die Menschen viel eher zum Geben bereit sind, wenn sie ein Tier in Armut sehen. Als wenn sie einen Menschen in Armut sehen. Und schließlich sagt er noch, dass er in den Augen der ganzen Arschlöcher hier als verarmter Mensch noch wertloser als jedes Haustier ist, und genau das. Hat er lernen müssen in den letzten Jahren. Und. Wie er das so bitter sagt, klingt er gar nicht grimmig, obwohl er mit seinen kurzgeschorenen Haaren und seinem recht kalten Blick sehr aggressiv aussieht, sondern er klingt. Sehr resigniert. Ganz wie jemand, der von seiner Gesellschaft in täglicher Dressur mit Zuckerbrot und Peitsche gelernt bekommen hat, was sein Platz ist.

Und er sagt, nicht im bellen Kommandoton, sondern in eigentümlich leiser und fast lieber Stimme zu seinem Hund: „Platz!“

Mit fröhlichem Gruß an A.

Das Mantra der tröstlichen Verblendung

Wenn man ihm gegenübersitzt, sieht man durch das bloße Hinschauen, wie es um ihn steht — sein ganzes Leben ist beschädigt. Er hält sich an seiner Zigarette fest, ganz so, wie sich ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammert; er zieht daran mit einer Intensität, wie sie nur selten zu sehen ist. Er hatte es sich abgewöhnt, das Rauchen, vor allem wegen der Kinder, aber er hat wieder angefangen, als es unerträglich wurde. Die Kinder sieht er kaum noch. Die Kinden sollen ihn auch nicht mehr sehen, sollen ihn vergessen. Die Körperhaltung ist eingesunken, jede Geste zurückhaltend, der gebrochene Blick mag sich kaum vom Boden lösen. Seine Stimme verrät selbst in ihrem zerbrochenen Klang noch, das sie einmal energisch, tatkräftig, zielgerichtet geklungen haben muss; damals, bevor er arbeitslos wurde, bevor seine Frau ihn mit einem dauerhaften Psychoterror fertig machte und sogar mit Gewalt aus der Wohnung geworfen hat — er kam aus falsch verstandener Ehre nicht einmal auf die Idee, zurückzuschlagen. Immer wieder, wenn er vom Jetzt und vom Damals erzählt, fügt er eine Art Mantra der tröstlichen Verblendung des New Age in seine Worte ein, die mich gegen die Tränen kämpfen lassen. Immer wieder sagt er mit einer Kraft, der man beim Hinhören das Zitternde und Gezwungene anmerkt, die Worte „Alles wird gut“. Und. Bekräftigt mit dieser hoffnungslos hoffenden Methode der Verdrängung erst, wie schlimm es wirklich ist.