Unsere Identität — wer und was wir sind und wie andere uns sehen — ist zu einem großen Teil damit festgelegt, welche Namen uns gegeben werden und mit welchen Wörtern wir etikettiert werden. Die Namen, Bezeichnungen und Ausdrücke, die verwendet werden, um Menschen damit zu ‚identifizieren‘, sie können letztendlich das Überleben der Menschen bestimmen.
Haig Bosmajian: The Language of Opression. Washington 1974
Zeitgenossin: Wer sind die Mächtigen? Wer sind die Herrschenden?
Nachtwächter: Die Mächtigen und Herrschenden sind jene Menschen, die definieren können, was schreibenswert, erhaltenswert, mitteilenswert ist. Es sind jene, an deren Definitionshoheit entschieden wird, was eine wichtige Nachricht ist, jene, die andere Menschen definieren können und mit den Mitteln und der Gewalt ausgestattet sind, diese Definition auch durchzusetzen, selbst dann noch, wenn sie sich beim bloßen Hinschauen als offensichtlich falsch erweist. Sie selbst, die Mächtigen und Herrschenden, können sogar als Personen hinter ihren Definitionen zurücktreten, und daher kommt dieser trügerische Schein der „Objektivität“ in den Nachrichten und in der Forschung, der so ein breites Blendwerk ist.
Zeitgenossin: Aber. Wenn das so ist, denn kann ich ja keiner gar Information mehr trauen.
Nachtwächter: Aber. Meine Schwester im Staub, du hast noch immer die Wirklichkeit — das ist jene, die wirkt — deines eigenen Lebens und deines unmittelbaren Umfeldes. Versuche, sie frei von den Definitionen der Herrschenden zu halten und sie mit der verfügbaren Kraft deines Bewusstseins einfach nur das sein zu lassen, was sie ist! Daran lernst du das Glauben, das Zweifeln und die Einsicht — und du lernst auch diese Einsamkeit kennen, in die hier jeder gestoßen wird, der sein Großhirn benutzt, statt es einfach in gewünschter Weise brach liegen zu lassen. Und. Versuche vor allem, die Struktur in dem zu erkennen, was gemäß der Definitionshoheit der Herrschenden nicht als schreibenswert, erhaltenswert, mitteilenswert erachtet wird. Unter der Herrschaft Josef Stalins in Russland waren unzählige Autoren und sonstige Inhaltsschöpfer damit beschäftigt, die Namen, Bilder und Zitate all jener, die unter Stalins Herrschaft in „Ungnade“ gefallen waren, aus allen in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Dokumenten zu entfernen, auf dass diese Menschen auch ja umfänglich vergessen werden, auf dass sich niemand mehr ihr Leben vorstellen könnte, von ihren Taten erzählen könnte, über ihre Gedanken nachdenken könnte oder in ihnen gar ein Vorbild für eigenes Denken und Handeln finden könnte. Schlag eine beliebige Zeitung auf oder mach deine Glotze an, und lass dich nicht von dieser Aufbereitung hypnotisieren und auch nicht ängstigen, sondern schau danach mit offenem Auge um dich, um Wirklichkeit zu sehen und mit dieser Aufbereitung abzugleichen! Und dann. Schau dir an, wessen Leben im Auswurf der Massenstanzen der Contentindustrie keine Spuren hinterlassen. Daran siehst du, welcher Menschen Existenz von den heutigen Herrschenden an das große Vergessen überantwortet werden soll. Und du. Wirst von selbst den richtigen Schluss daraus ziehen, zumal sich die Mächtigen und Herrschenden noch schwach und recht schemenhaft in dieser breiten Lücke spiegeln. Am schnellsten gelingt dies immer noch, wenn du im Verlaufe einer solchen Betrachtung feststellen musst, dass dein eigenes Leben von fremder Definitionshoheit in das Nichts geworfen werden soll.
Mit Gruß an Ilse. Kiff nicht so viel!