Tag Archive: Arbeitslosigkeit


Lebens-Sinn

Diese ganzen Menschen, deren gesammter Lebens-Sinn mit aller Gewalt und Selbstgewalt darauf reduziert ist, einen „Job“ zu finden

Pi

π ≈ 3,141 592 653 589 793 238 462 643 383 279 502 884 197 169 399 375 105 820 974 944 592 307 816 406 286 208 998 628 034 825 342 117 067 …

Am 18. Januar des Jahres 1897 wurde dem Repräsentantenhaus des US-Bundesstaates Indiana ein Gesetzentwurf vorgelegt, und diese Vorlage wurde ohne Gegenstimme angenommen. Inhaltlich ging dieses Gesetz auf die Arbeiten von Edward Johnston Goodwin zurück, aus denen sich ein exakter und verblüffend einfacher Wert für die mathematische Konstante π ergeben sollte — Johnston selbst meinte hierzu, dass er das exakte Maß des Kreises auf übernatürliche Weise erfahren habe. Obwohl Johnstons verschiedene Arbeiten keineswegs auf den gleichen Wert für π kamen, sollten sie zur Grundlage einer gesetzlichen Festlegung der Konstante gemacht werden. Die bisher gebrauchten Werte für π wurden in der Gesetzesvorlage als völlig fehlerhaft und in praktischen Anwendungen irreführend bezeichnet, an ihre Stelle trat die im Alltag recht handliche Festlegung π = 3,2, die ja auch schönen, glatten Ergebnissen beim Rechnen führt. Auf die naheliegende Idee, dass mathematische Wahrheiten nicht durch einen Gesetzgebungsvorgang geschaffen würden, scheint kein Beteiligter gekommen zu sein.

Dass dieses Gesetz niemals in Kraft trat, ist der Tatsache gedankt, dass zufällig ein Mathematikprofessor als Gast an der Sitzung teilnahm und nach der Verabschiedung im Repräsentantenhaus die Parlamentarier im Senat aufklärte. (In Indiana müssen beide Kammern des Parlamentes, das Repräsentantenhaus und der Senat, einem Gesetze zustimmen.) Nach seiner Aufklärungsarbeit wurde die weitere Beratung der Vorlage am 12. Februar 1897 im Senat auf unbestimmte Zeit vertagt, und in diesem Zustand ist das Gesetz bis heute.

An diese Geschichte von der faktenschaffenden Dummheit eines parlamentarischen Betriebes sollte sich jeder Denkende jedes Mal erinnern, wenn angesichts der Anzahl der offenen Arbeitsstellen und der viel größeren Anzahl der Menschen ohne Arbeit irgendwelche weltfremden Angehörigen der classe politique — nur geringfügig durch das Propagandawort von den „Anreizen“ — verklausuliert davon sprechen, dass die Arbeitslosigkeit ihre Ursache in den Menschen ohne Arbeit hat und dass diese Menschen deshalb nur stark genug zu eigenen Bemühungen gedrängt werden müssten, damit sich das Problem der Arbeitslosigkeit von allein erledige. Denn auch die Wahrheit, dass den [Stand: Januar 2010] 4.758.953 „offiziellen“ Arbeitslosen, die mindestens um die 1.543.888 Menschen in meist sinnfreien und unter Teilnahmezwang stehenden Maßnahmen zum Bewerbungstraining und optimierten Selbstverkauf zu ergänzen wären, lediglich [Stand: Februar 2010] 942.000 offene Stellen gegenüber stehen, ändert sich nicht schon dadurch, dass Parlamentarier vom „Fordern und Fördern“ faseln und ansonsten auf den Weihnachtsmann zu hoffen scheinen, der den Menschen in der BRD ganz viel Arbeit bescheren soll, ganz so, als sei Arbeit ein seliges Geschenk und nicht eine Last und als sei die Übernahme vieler leidiger Tätigkeiten durch Maschinen etwas anderes als ein glückvoller Segen. Der beständig von den Fakten abgewandte Blick deutscher Parlamentarier und ihre Zuwendung zu zwar handlichen, aber offenkundig absurden Theorien des „Arbeitsmarktes“ als Grundlage für gesetzliche Regelungen ist keinen Deut weniger dumm als der Versuch, die mathematische Konstante π durch ein Gesetz auf den Wert 3,2 festlegen zu wollen.

Das Mantra der tröstlichen Verblendung

Wenn man ihm gegenübersitzt, sieht man durch das bloße Hinschauen, wie es um ihn steht — sein ganzes Leben ist beschädigt. Er hält sich an seiner Zigarette fest, ganz so, wie sich ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammert; er zieht daran mit einer Intensität, wie sie nur selten zu sehen ist. Er hatte es sich abgewöhnt, das Rauchen, vor allem wegen der Kinder, aber er hat wieder angefangen, als es unerträglich wurde. Die Kinder sieht er kaum noch. Die Kinden sollen ihn auch nicht mehr sehen, sollen ihn vergessen. Die Körperhaltung ist eingesunken, jede Geste zurückhaltend, der gebrochene Blick mag sich kaum vom Boden lösen. Seine Stimme verrät selbst in ihrem zerbrochenen Klang noch, das sie einmal energisch, tatkräftig, zielgerichtet geklungen haben muss; damals, bevor er arbeitslos wurde, bevor seine Frau ihn mit einem dauerhaften Psychoterror fertig machte und sogar mit Gewalt aus der Wohnung geworfen hat — er kam aus falsch verstandener Ehre nicht einmal auf die Idee, zurückzuschlagen. Immer wieder, wenn er vom Jetzt und vom Damals erzählt, fügt er eine Art Mantra der tröstlichen Verblendung des New Age in seine Worte ein, die mich gegen die Tränen kämpfen lassen. Immer wieder sagt er mit einer Kraft, der man beim Hinhören das Zitternde und Gezwungene anmerkt, die Worte „Alles wird gut“. Und. Bekräftigt mit dieser hoffnungslos hoffenden Methode der Verdrängung erst, wie schlimm es wirklich ist.