Tag Archive: Todeskult


Die heilige Krankheit

Zeitgenosse: In meiner Krankheit ist mir Gott ganz nahe gewesen.

Nachtwächter: Wenn dir dein Gott immer nur in der Krankheit ganz nahe ist, und niemals in Gesundheit, Lebensfreude, Lust und Kraft, denn ist es kein Wunder, dass du so oft krank bist. Gott ist für dich nur ein anderer Name für das Kranksein, die Schwäche, für das eigene Unvermögen, für die Verantwortungslosigkeit — ja, für den Tod.

Descensus ad inferos

Kaum etwas entlarvt den wahren Charakter der institutionalisieren und staatstragend gewordenen christlichen Religion dermaßen deutlich, wie der Militärgeistliche, der den Soldaten noch ein paar Worte von der göttlichen Liebe mit ins blutgedüngte Feld geben soll, damit die Kriegswaffenindustrie auch eine reiche Ernte einfahre; wie der Lügenpriester, der am Sarge eines Großräubers in prunkvoller Zelebration den Komplizen und Verwandten etwas vom gerechten Gott und ewigen Leben hintröstet und wie der Pfaffe, der einem zum Tode verurteilten Menschen vorm kalten Schafott noch ein paar fromme Wörtchen erzählt. Heilig, heilig, heilig ist der Tod, lasset uns anbeten!

Der esoterische Selbstbetrug

Oh, der Einfall war kindisch, aber göttlich schön.

Friedrich Schiller, „Don Carlos“

Manchmal, eigentlich sogar recht häufig, wollen einem Anhänger der modernen und am Markt recht erfolgreichen hybriden Religion namens „Esoterik“ anderen Menschen weis machen, dass die von ihnen auserkorene Irrationalität eine Vorwegnahme künftiger Wissenschaft sei. Um diese These zu „belegen“, greifen die so Redenden ein wenig in die bunte Kiste mit den Irrungen der Wissenschaftsgeschichte und greifen sich aus diesem fröhlichen Schatz eine Handvoll besonders eklatanter Beispiele der Ignoranz des wissenschaftlichen Etablissements heraus und verweisen darauf, dass „die Wissenschaft“ dann schließlich doch noch die Fakten anerkennen musste, sie sogar zu Gegenständen der Forschung machen musste. Und genau das gleiche erwarten sie von ihrem durch nichts belegbaren, gleichermaßen billigen wie nicht preiswerten Seelentrost voller Geschäft, Primitivität, Betrug und Angstabwehr.

Ein beliebtes Beispiel der so redenden und leider auch so denkenden Idioten sind — so sie nicht gleich von der scheibenförmigen Erde jener Zeit sprechen, in welcher eine Kaste von Pfaffen den Allheitsanspruch ihrer Religion mit Gewalt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit machen konnte — die Meteoriten. Sie verweisen darauf, dass die meisten Wissenschaftler von ihrem damaligen Modell des Sonnensystemes ausgehend, jeden Fund eines Meteoriten mit den ungefähren, recht autoritär dargebrachten und oft mit ätzender Polemik gewürzten Worten „Steine fallen nicht vom Himmel“ für unbeachtlich erklärten und sich mit der Wirklichkeit der Meteoriten nicht weiter beschäftigten, weil sie davon ausgingen, dass der Raum im Sonnensysteme nur mit größeren Körpern gefüllt sei. Ein anderes Beispiel, das von den Wirrgläubigen gern herausgepickt wird, sind die Kugelblitze, deren Natur übrigens bis heute unklar ist. Beides sind heute ganz selbstverständliche Gegenstände der Forschung und Theoriebildung, obwohl die Beschäftigung mit diesen Erscheinungen vor noch gar nicht so langer Zeit den Ruch des Abergläubischen und Irrationalen hatte, durchaus damit vergleichbar, wie in der heutigen Wissenschaft die so genannten „Parawissenschaften“ betrachtet werden.

Aber die blinden Gläubigen der Esoterik bemerken dabei nicht, dass sowohl die Existenz von Meteoriten als auch die Existenz von Kugelblitzen in psychischer Hinsicht neutral sind. Das Postulat, dass Steine außerirdischen Ursprunges vom Himmel fallen oder das Postulat, dass eine mutmaßlich elektrische Erscheinung in Form eines leuchtenden Plasmaballes auftreten kann, mag intellektuell interessant und kurios sein, aber es ist für das Seelenleben eines Menschen ungefähr so bedeutsam wie das Postulat, dass jede natürliche Zahl einen Nachfolger habe und dass man deshalb unbegrenzt zählen könne. Von daher gibt es zum Beispiel keine nennenswerte psychische Motivation, derartige Berichte zu erfinden oder Belege für diese Thesen zu fälschen — was bleibt, ist die Ungenauigkeit in den Mitteilungen episodischer, nicht-reproduzierbarer Erlebnisse, die der Skepsis gegenüber dem Mitgeteilten für so lange Zeit Futter gab.

Deshalb hat es auch niemals ein großes, psychisch motiviertes Geschäft mit dem Glauben an Meteoriten oder Kugelblitzen gegeben. Im schlimmsten Falle wurden und werden Sammlern ordinäre irdische Steine vulkanischen Ursprunges als meteoritisches Gestein verkauft.

Die von primitiver Magie, narzisstischer Seelenvergötzung und einem allgemeinen Konzept des Belebt- und Durchgeistert-Seins aller Erscheinungen des Kosmos geprägten Konzepte der Esoterik und der darauf basierenden Parawissenschaften sind aus einem völlig anderen psychischen Material gebaut, sie erfüllen dem in seinem Bedingt-Sein verhafteten Menschen Wünsche nach individueller Bedeutung, Einflussnahme, Unsterblichkeit und Sinnhaftigkeit, sie sind ein geiler Traum, der so alt ist wie die Einsicht in die kalte, gebieterische Wirklichkeit des Todes und der sogleich daran mit aufkommende Wunsch, diese Wirklichkeit möglichst umfänglich zu vergessen. Für solche Verdrängung existiert ein großer Markt; und die vielen Bereiche der Esoterik, sei es der Geisterglaube, der Spiritismus, die angenommene Möglichkeit telepathischen Austausch oder der telekinetischen Beeinflussung der Umwelt durch psychische Kräfte, sie sind schon immer Bereiche gewesen, in denen gefälscht wurde, in denen gelogen wurde und in denen den Gläubigen für ein bisschen Einlullung ihrer todgepeinigten Seele ordentlich das Geld aus der Tasche gezogen werden konnte. Das gleiche gilt für eine recht junge (aber zum Glück schon wieder etwas in Vergessenheit geratene) Spielart dieses postmodernen Voodoo*, der UFO-Esoterik. Aus dem psychischen Gewinn, der sich mit diesen Konzepten verbindet, lässt sich also wirtschaftlicher Gewinn saugen, und dies geschah und geschieht immer wieder.

Nicht, dass ich jemanden um seine Selbsteinlullung bringen will, aber zum Thema der Wissenschaft wird sie hoffentlich niemals werden — und wenn doch einmal, dann am ehesten noch zum Thema der Psychopathologie. Wer sogar so blöd ist, dass er eine kommerziell vorgestanzte Form der seelischen Selbsteinlullung mit Individualität verwechselt, ist in diesem vollständigen Denkverzicht längst verloren — ein Denkender und Fühlender lullt sich wenigstens noch in eigener Verantwortung auf seine eigene Art ein. 😉

Nur eines sei hier noch zum Abschluss gesagt: Es gab genau zwei Erkenntnisse in der jüngeren Geschichte der Wissenschaft, die sich gegen große gesellschaftliche Widerstände durchsetzen mussten. Der Grund dieser Widerstände war (und ist) das psychische Unbehagen, das sich mit diesen Einsichten verband. Die erste Einsicht, die sich mit dem Namen Galileo Galilei verbindet, ist die Tatsache, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Kosmos ist. Diese Einsicht führte zur juristischen Verfolgung Galileis durch die Profiteure des psychischen Geschäftes im Vatikan, bei der belastende Beweise einfach gefälscht wurden. Eine Rehabilitation Galileis durch die juristischen Organe des Vatikans fand erst am 2. November 1992 statt. Die zweite Einsicht, die sich mit dem Namen Charles Darwin verbindet, ist die Tatsache, dass sich alles Leben auf der Erde unter völlig natürlichen, materialistisch erklärbaren Bedingungen entwickelt und diversifiziert hat. Diese Einsicht hatte für Darwin zwar keinen lebenslangen Hausarrest und die in der Luft liegende Drohung des Scheiterhaufens mehr zur Folge, aber sie wird bis heute massiv angefeindet, und wenn die meist religiösen Gegner dieser Einsicht nur die Macht hierzu hätten, denn würde sie auch mit Gewalt unterdrückt. Wer wirklich meint, dass sein narzisstisches Bedürfnis nach Todesverdrängung, Sinngebung und eingebildeter Allmacht in den Rang einer für alle Menschen verbindlichen Erkenntnisgrundlage gestellt werden sollte, der steht in dieser Meinung für derartige Unterdrückungen. Und. Belegt damit das barbarische, archaische Material unter der bunten Verpackung, in der eine jahrmarkthafte Esoterik-Industrie den seelischen Ausverkauf betreibt.

* Anhänger der ebenfalls hybriden, aber wenigstens mit Tradition ausgestatteten Religion Voodoo mögen mir diesen Vergleich mit einer reinen, als Spiritualität getarnten Geschäftemacherei verzeihen.

Aus der Verwesung geboren

Und der Verwesung blauer Glorienschein
Entzündet sich auf unserm Angesicht.
Ein Ratte hopst auf nacktem Zehenbein,
Komm nur, wir stören deinen Hunger nicht.

Georg Heym, Die Morgue

Ein Landwirt hat einmal die Frage eines etwas arroganten Gastes aus der Stadt zum Tischgebet, ob denn hier alle vor dem Essen beten würden, mit Witz und verblüffend halber Einsicht beantwortet, indem er sagte: „Nein, nicht alle. Das Vieh betet natürlich nicht. Aber die Menschen hier, die bedanken sich bei ihrem Schöpfer.“

Es gibt offensichtlich keine Kühe, die sich ein kuhförmiges metaphysisches Wesen voll der Allmacht und der Ewigkeit vorstellten, das auf einer immergrünen Weide Ewigsaft von dienstbaren geflügelten Kühen umgeben wäre. Und. Das aus nicht näher verständlichen Gründen ein ganzes Universum gemacht hätte und in seinem Lauf erhielte, nur, um darin ein paar Kühe als Abbilder seiner selbst existieren zu lassen, für welche diese heilige, wiederkäuende Großkuh einen sonst recht unsichtbaren Plan voller Heil verfolgte. Um eine derartige Vorstellung zu entwickeln und diese auch mit ständiger Umdeutung der Erfahrungen gegen die konkreten Entbehrungen des Daseins abzusichern, bedarf es eines psychisch-mentalen Prozesses, der Kühen und anderen Tieren fehlt, der nur dem Menschen zueigen ist. Es ist dies der gleiche psychisch-mentale Prozess, der dem Menschen neben der lebenspraktisch so bedeutsamen Einsicht in komplexe Zusammenhänge die wenig erfreuliche Einsicht in die eigene Sterblichkeit gewährt.

Die menschliche Tätigkeit der Religion (und zwar jeder Religion) zeigt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung als eine Form der Todesabwehr. Sie ist eine intellektuelle Retardierung, die das Ziel verfolgt, die Kraft der tieferen Einsichtsmöglichkeit im Leben zu erhalten, sie aber dennoch angesichts des völlig unerwünschten und doch für die Einsicht offensichtlichen Endes des Lebens zu beschränken. Aus dieser psychischen Ausrichtung der Religion kommt auch das manifest Todeszentrierte aller religiösen Systeme — und ihre Feindseligkeit gegenüber dem Leben und der damit verbundenen Lust.

Lobotomie

Die Psychochirurgie erreicht ihre Erfolge, indem sie die Phantasie zerschmettert, die Gefühle abstumpft, das abstrakte Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum erschafft.

Walter Freeman, Psychiater, über seine eigene Arbeit

Wer wissen will, was die so genannten „Menschenrechte“ und das Gefasel von der so genannten „menschlichen Würde“ in irgendwelchen Sonntagsreden wert sind, der braucht sich nur anzuschauen, wie unverbindlich derartige Werte dort werden, wo sich Menschen nicht mehr verwirtschaften lassen und keinen Widerstand gegen das zu leisten vermögen, was ihnen zwangsweise widerfahren gemacht wird.

Das heute vielen jüngeren Menschen eher unbekannte Wort „Lobotomie“ bezeichnet einen chirurgischen Eingriff in das Gehirn eines Menschen, bei dem die Nervenbahnen zwischen dem Thalamus und dem Stirnhirn zusammen mit Teilen der grauen Substanz zerstört werden. Bei diesem gleichermaßen recht schnell und einfach durchzuführenden und auf andererseits irreversibel tiefen Eingriff kommt es zu einer Veränderung der Persönlichkeit bei gleichzeitiger Vernichtung der Emotionalität und jeglichen Antriebes. Das Verfahren wird heute nicht mehr angewendet. (Denn es gibt heute andere, reversiblere Verfahren mit einem ähnlichen Effekt, aber dazu später etwas mehr.) Als jedoch in den 1940er Jahren der Psychiater und Leiter der Psychiatrischen Klinik zu Washington D.C., Walter Freeman, ein einfach anzuwendendes chirurgisches Verfahren für die Lobotomie entwickelte, da wurde dieses zu einer Standardtechnik der Psychiatrie, das bis zur Mitte der 1950er Jahre vor allem in den englischsprachigen Staaten, aber auch in vielen anderen Staaten sehr häufig an solchen Menschen durchgeführt wurde, die man für psychisch krank hielt. Es wird geschätzt, dass das Freeman-Verfahren weltweit an einer Million Menschen angewendet wurde — genaue Daten sind nicht ermittelbar, weil sie niemals erfasst wurden.

Dies ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass es infolge der Wirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrieges mit seinen psychischen Traumatisierungen zu einem plötzlichen Anstieg psychischer Erkrankungen kam, die damals nicht medizinisch behandelt werden konnten. Die übliche „Behandlung“ bestand darin, dass die Patienten zwangsweise aus der menschlichen Gemeinschaft herausgenommen, weggesperrt, in engen Zimmern zusammengepfercht wurden und Elektroschocks erhielten.

Als der Yale-Absolvent Walter Freeman aus durchaus humanitären Gründen nach einer Therapie für diese medizinischen „Fälle“ suchte, stieß er auf eine Arbeit des portugiesischen Arztes Egaz Moniz, der für seine darin dargelegte Idee und die Entwicklung eines ersten Verfahrens übrigens im Jahre 1949 den Nobelpreis für Medizin verliehen bekam, und der in ebendieser Arbeit die Auffassung vertrat, dass man viele psychische Krankheiten heilen könnte, indem man im Gehirn die Nervenstränge vom Stirnlappen zum Thalamus durchtrennt. Offenbar war die Zeit für diese Form der „Behandlung“ psychischer Krankheiten so „reif“, dass es jahrzehntelang niemandem auffiel, dass es keine Studien über die Wirksamkeit und mögliche unerwünschte Wirkungen eines solchen Verfahrens gab.

Die besondere Leistung Freemans bestand darin, ein sehr einfach anzuwendendes Verfahren zur Durchführung dieses Eingriffes zu finden und dieses Verfahren zu propagieren und in mehreren tausend Fällen selbst anzuwenden. Das Propagieren Freemans war dermaßen beflissen, dass er Operationen nach dem Freeman-Verfahren in Hörsälen und sogar im Fernsehen vorführte, um seine „optimale Behandlungsform“ zu demonstrieren und mit einem Wohnwagen, den er als „Lobomobil“ bezeichnete, von Klinik zu Klinik fuhr, um dort zu „operieren“ und sein Verfahren zu lehren. Das Verfahren war in seiner Durchführung dermaßen einfach, dass Freeman zwei Dutzend Menschen am Tag lobotomieren konnte. Dieses offensive Auftreten führte dazu, dass die damaligen Zeitungen voll mit den Berichten über die „Wunderheilungen“ Freemans waren — offenbar deckte sich der „Erfolg“ der Freeman-Methode mit den Vorstellungen und Wünschen jener Menschen, die ihre verquarzte Gedankenwelt mittels einer Rotationsmaschine auf tote Bäume stempeln konnten und können und so zur Deinung der Massen machen konnten und können.

Beim Freeman-Verfahren der Lobotomie wird keine spezielle neurochirurgische Qualifikation benötigt. Auch die erforderlichen Instrumente sind preisgünstig und stellen keine besonderen Anforderungen an ihre Fertigung; Freeman verwendete anfangs einen Eispickel, später ein speziell gefertigtes Instrument, das einem Eispickel nachempfunden war. Dieses Instrument, welches man in solcher Verwendung eher in einer mittelalterlichen Folterkammer als in einen Operationsaal vermuten würde, wurde unter meist lokaler Anästhesie am Auge vorbei geführt, um mit einem leichten Stoß den dünnen Knochen im oberen Bereich der Augenhöhle zu durchstoßen und so in das Innere des Schädels, in das Gehirn eingeführt werden zu können. Hierzu musste nur ein Augenlid angehoben werden, um die Spitze des „chirurgischen Instrumentes“ am Auge vorbeiführen zu können. War auf diese Weise der Weg in das Gehirn gebahnt, so wurde nach dem Erreichen einer vom Arzt subjektiv bewerteten, „richtigen“ Eindringtiefe durch strokelnde, rotierende Bewegungen der „kranke“ Teil des Gehirnes zerstört. Dieser Eingriff war nicht nur so einfach, dass er auch von Menschen ohne chirurgische Ausbildung ausgeführt werden konnte und auch ausgeführt wurde, er galt überdem als besonders schonend, musste doch nicht eigens der Schädel von oben geöffnet werden. Es blieb nicht einmal eine Narbe zurück, nur ein Bluterguss am Auge legte für einige Wochen Zeugnis davon ab, dass ein Eingriff in das Gehirn vorgenommen wurde. Und. Natürlich auch die irreversibel vernichtete Persönlichkeit des so „operierten“ Menschen.

Kaum war ein solches, billig, einfach und am Fließband anzuwendendes Verfahren verfügbar, schon fanden sich auch viele „Krankheiten“, die damit „behandelt“ werden konnten. Mit einer Lobotomie wurden immer wieder auch ganz bestimmte „Krankheiten“ „geheilt“, wie etwa Kommunismus, Homosexualität, „asoziales Verhalten“ oder auch einfach nur eine Unwilligkeit oder Unfähigkeit, den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen Genüge zu tun. In der Tat lösten sich diese „Krankheiten“ oft in Nichts auf, wenn aus einer lebhaften Persönlichkeit ein emotionsloser, sedierter und zu keiner eigenen Lebensäußerung mehr fähiger Funktionsmensch gemacht wurde. Und auf die gleiche Weise lösten sich auch alljene Krankheiten auf, die man heute noch als Krankheiten bezeichnen würde, etwa bestimmte Formen der Depression, Zwangsstörung und des posttraumatischen Belastungssyndroms. Sie verschwanden einfach zusammen mit der erkrankten Persönlichkeit, während die entkernte Hülle eines Menschen als noch verwertbares Formfleisch zurückblieb. Dass die so behandelten Menschen nicht gerade um Erlaubnis befragt wurden, sondern durch die Verfügung anderer Menschen der als Wissenschaft und Medizin getarnten Barbarei überantwortet wurden, versteht sich von selbst. Niemand, der noch bei Troste ist, lässt das. Mit sich machen.

Über ein Jahrzehnt lang konnte Walter Freeman seine Methode der Lobotomie anwenden und lehren, ohne dass es von medizinischer Seite, von staatlicher Seite oder von der Journaille und anderen Massenmedien zu einem Versuch kam, ihn daran zu hindern. Es gab keine Studien über die Erfolge und mögliche unerwünschte Auswirkungen des Verfahrens, nur subjektiv gefärbte Erfolgsberichte, die vor allem von Befürwortern und Praktizierenden der Lobotomie gesammelt wurden; es gab keine Spur von einer Wissenschaft, die diesen Namen verdient hätte. Es war einfach nur barbarische Willkür, ein am Fließband betriebener Mord am Kern der Persönlichkeit mit der Absicht, den Körper dabei möglichst in einem eher mechanischen Sinn lebendig, also weiterhin funktionsfähig und verwertbar zu halten.

Das eingangs gegebene Zitat Freemans ist übrigens frei von jeder Selbstkritik, er hat seine „medizinischen“ „Erfolge“ wirklich so gesehen, wie sie waren. Und. Genau in dieser Form für gut befunden.

Die massenhafte Lobotomie hörte erst in der Mitte der 1950er Jahre auf, als mit dem Neuroleptikum Chlorpromazin unter dem Markennamen Thorazine das erste wirksame Psychopharmakon in den USA verfügbar wurde — und seitdem werden hinter den Mauern, an denen die so genannten „Grundrechte“ enden, in den psychiatrischen Kliniken, auch immer wieder schwer in den Stoffwechsel des Gehirnes eingreifende Medikamente verabreicht, um Menschen auf diese Weise sediert und gefügig zu halten. Es ist bitter, dass man diesen Medikamentenmissbrauch durch Ärzte als einen Fortschritt betrachten muss, wenn man nur ein paar Jahrzehnte zurückschaut.

Doch auch nach der Erfindung der Psychopharmaka wurde von US-amerikanischen Ärzten immer wieder die Lobotomie als eine günstige „Lösung“ bestimmter Probleme vorgeschlagen.

Als es im Jahre 1967 in Detroit (Michigan) nicht nur das Henry-Ford-Museum, das Labor von Thomas Edison und die alte Werkstatt der Gebrüder Wright gab, sondern auch vorübergehende, aber schwere Rassenunruhen, da wurde im Journal of the American Medical Association ein Leserbrief der nicht nur am Kittel weißen Harvard-Autoren V. Mark, F. Ervin und W. Sweet abgedruckt. Diese sahen eine „fokale Gehirnstörung“ als Ursache der Ausstände, und um weitere Unruhen zu verhindern, sollte es nach Meinung dieser Ärzte völlig ausreichen, diese „Ursache“ operativ zu entfernen. Zwei dieser Autoren, Mark und Ervin, veröffentlichten im Jahre 1970 ihr Buch Violence and the Brain, in welchem sie die Lobotomie als final solution (!) für das Gewaltproblem vorschlugen, zum Beispiel zur Behandlung von Häftlingen, die sich nicht resozialisieren lassen. Auch, wenn dies nicht explizit erwähnt wurde, ist wohl nicht davon auszugehen, dass nach Meinung dieser ganz besonderen Menschenfreunde die so zu verkrüppelnden Menschen vorher um Erlaubnis gefragt werden sollten. Wo die Humanität das ärztliche Eingreifen erfordert, muss der von solchen Ideen besessene Arzt eben tätig und tätlich werden — das ist, um es mit den Worten des Psychiaters L. G. West zu dieser faschistoiden Idee zu sagen, eben ein „biosozialer Humanismus“. Später wurden solche „Argumentationen“ — dem sich ändernden Zeitgeist entsprechend — noch um wirtschaftliche Betrachtungen angereichert; als etwa im Jahre 1979 der Psychiater H. Brown die Lobotomie zur „Rehabilitation“ jugendlicher Straftäter empfahl, da wurde dieser Vorschlag unter besonderer Betrachtung der Tatsache diskutiert, dass eine solche „Wiedereingliederung in die Gesellschaft“ doch mit einem Aufwand von 6.000 Dollar wesentlich kostengünstiger sei als eine lebenslange „Verwahrung“, die im Schnitt 100.000 Dollar kostet.

Wer angesichts dieses Rückblickes glaubt, dass die heutige Medizin frei von Barbarei sei, ist ein Traumtänzer — wie kommenden Generationen die jetzigen Zustände in der so genannten „Pflege“; in der (meist nicht stattfindenden) Palliativmedizin bei Sterbenden, die sich darauf beschränkt, die Menschen in ihrem angstvollen und ungelindert schmerzhaften Verrecken bis zum letzten Atemzug zu verwirtschaften; oder auch immer noch in der Psychiatrie erscheinen werden, das kann man heute schon sehen, wenn man einfach nur hinschaut.

Was es wohl bedeuten mag, dass nach einem Bericht des „Spiegel“ (im Artikel „Abschied vom Kettenhemd“ der Ausgabe 52/2002) die meisten Ärzte ihren Verwandten keine hochpotenten Neuroleptika verordnen würden, kann sich jeder selbst denken; vielleicht hilft solches Denken auch, anderen ärztlichen Verordnungen gegenüber angemessen kritisch zu sein und sich stets selbst zu informieren. Dass es zur Wirkungsweise von Neuroleptika kaum Grundlagenforschung gibt und dass zudem beinahe die gesamte Forschung ausschließlich durch die Hersteller der Medikamente finanziert wird, erinnert angesichts der breiten Anwendung dieser Medikamente alarmierend genug an den „wissenschaftlichen“ Hintergrund bei der massenhaften Durchführung der Lobotomie.

Und wer wirklich glaubt, dass die so genannten „Menschenrechte“ auch für jene Menschen eine Bedeutung und Wirksamkeit hätten, die unter der direkten oder — wegen existenzieller wirtschaftlicher Abhängigkeit — mittelbaren Verfügungsgewalt anderer Menschen stehen, sollte einmal nachschauen, ob er nicht zwischendurch selbst das Opfer einer Lobotomie geworden ist. Das zeitgemäße Verfahren der „Lobotomie durch Fernsehen und Massenmedien“ scheint — wie ich immer wieder bei meinen Zeitgenossen feststellen muss — von verheerender Wirksamkeit zu sein.

Die furchtlosen Heuchler

Das 5. Kapitel (Apostelgeschichte) Ein Mann aber mit Namen Ananias samt seiner Frau Saphira verkaufte einen Acker und entwendete etwas vom Gelde mit Wissen seiner Frau und brachte einen Teil und legte es zu der Apostel Füßen. Petrus aber sprach: Ananias, warum hat der Satan dein Herz erfüllt, daß du den heiligen Geist belögest und entwendetest etwas vom Gelde des Ackers? Hättest du ihn doch wohl mögen behalten, da du ihn hattest; und da er verkauft war, war es auch in deiner Gewalt. Warum hast du dir solches in deinem Herzen vorgenommen? Du hast nicht Menschen, sondern Gott belogen. Ala Ananias aber diese Worte hörte, fiel er nieder und gab den Geist auf. Und es kam eine große Furcht über alle, die dies hörten.

Man merkt es den großen christlichen Kirchen in der BR Deutschland an, dass da schon lange keine „große Furcht“ mehr ist, dass sie genau wissen, dass „ihr“ Gott nicht mehr auf Heuchelei und Lüge reagiert, indem er die Heuchler und Lügner einfach vor versammelter Gemeinde bloßstellt und effektvoll mordet. Dies mag widerspiegeln, dass diese Kirchen sich längst den Satan zum Gotte erkoren haben, oder doch wenigstens seinen glitzergüldnen Bastardsohn, den Mammon.

Die nützliche und kleinhaltende Todesangst vor Gott ist für die Anderen, nicht für die kirchlichen Heuchler und ihr Geschäft.

Wenn der Vorübergehende sein schattenhaft dünstelndes Dasein durch die dröhnvolle Stadt schleppt, muss er an vielen Schaufenstern vorübergehen, in denen sich kirchliche und kirchennahe Organisationen mit Hilfe der Schergen Satans, der bildbunten Brut der Werber, zur Schau stellen. In diesen zur Schau stellenden Fenstern warmgetünchter Hochglanz von glücklichen Alten und Kranken, fotografiert durch den Lächelfilter der Reklamelüge, und zu diesen Bildern kurze, hehre Wortfetzen von Pflege und Geborgenheit, zu stanzen einen Eindruck von sozialem Engagement im Kopfe der weniger Bewussten.

Niemand soll sich darüber verwundern, dass es diese Läden erst gibt, seit die so genannte „Pflegeversicherung“ aus solchem Tun einen guten deal gemacht hat. Nein! Engagiert und „sozial“ soll es aussehen, was da getrieben wird, wie ein Akt selbstloser Liebe.

Das sieht der Vorübergehende und spürt den unwiderstehlichen Reiz und würde sich zur Erleichterung zu gern erbrechen, wenn er doch nur etwas im Magen hätte. Denn er kennt die andere Seite, die nicht so glänzt, er weiß aus persönlichen Gesprächen von flugs angelernten Menschen, die sich in erzwungener, staatlicher Hartz-IV-Elendsarbeit für einen Nichtlohn in der so genannten „Pflege“ verschleißen müssen, damit auch ja der Profit stimme, er hat die ausgebildeten Schwestern kennengelernt, die einen befristeten Vertrag als Hilfsschwester nach dem anderen kriegen, immer mit dem mündlich gegebenen Versprechen einer anschließenden Übernahme in einer festen Anstellung und so knebelnd gehalten, dass sie sich noch krank zur unterbezahlten Maloche schleppen müssen, um ja nicht kurzfristig gekündigt zu werden und vor dem völligen persönlichen Nichts zu stehen. Er weiß von ständiger Verfügbarkeit, Einsparungen am Personal, selbstverständlich erwarteten, unbezahlten Überstunden und der völligen Unmöglichkeit einer persönlichen Lebensplanung im Zustand der totalen Ausbeutung und der täglichen, telefonischen Abrufbarket, die selbst noch im „Urlaub“ erwartet wird. Er hat mit diesen vom christlichen Pflegemoloch zu Material gemachten Menschen zu viele Tränen geweint, um angesichts des Zynismus und der werbenden Kälte dieses lichtscheuen Gesindels keinen Ekel zu empfinden. Und. Er ist sich sicher, dass auch die „Pflegefälle“ wie Material behandelt werden, weil es in diesem ganzen, asozialen Treiben der Kirchen und ihrer Geschäftsstellen nur auf eines ankommt: Auf den Reibach.

Und dies alles wissend findet der Vorübergehende es schon manchmal sehr schade, dass die zynischen, geldgeilen, pfäffischen Heuchler ohne jeglichen Respekt vor den missbrauchten Menschen nicht einfach wie in gewissen biblischen Berichten tot umkippen.

 

Quelle des Scans: Die Bibel, Apostelgeschichte, 5. Kapitel, Verse 1 bis 5, revidierte Luther-Übersetzung von 1956. Sorry für den heute schwer lesbaren Fraktursatz, aber ich habe gerade keine andere Bibel zur Hand — zudem zeigt dieses Schriftbild trefflich, wie obsolet dieses Buch im institutionalisierten Christentum wirklich ist. Mit Gruß an I. und C.

Richtung und Garheit (24)

Bestechung ist wie ein Zauberstein dem, der sie gibt; wohin er sich kehrt, hat er Glück.

Die Bibel, Spr. 17, 8

Zahl — Eine Zahl bildet vielleicht keinen Aspekt der Realität ab, aber sicher eine Eigenart der menschlichen Wahrnehmung dieser Realität. Beim Wahrnehmen ist der Mensch dazu imstande, beliebige Entitäten zu abstrakten Klassen anzuordnen; diese innere Gehirntätigkeit wird dann — wie bei jeder anderen Wahrnehmung auch — als äußere Wahrheit empfunden. In diesem speziellen Prozess der Wahrnehmung tritt eine neue Erscheinung auf, die sich darin äußert, dass die wahrgenommenen Klassen identische Anzahlen von Elementen enthalten können. Sechs Tassen Kaffee, sechs Bücher und sechs ehemalige Freundinnen haben nichts gemeinsam, außer der Gleichzahl von Elementen in den jeweils wahrgenommenen Klassen. Diese „Sechsigkeit“ der betrachteten Klassen wird im abstrakten Zahlwort Sechs zusammengefasst, gedacht, behandelt; und alles, was diese in Klassen zusammengefassten Entitäten auszeichnet, versinkt im Sumpf des hirngeborenen Begriffes. Die Mathematik, eine strikt deduktive Wissenschaft, die von vielen Menschen als Inbegriff der objektiven Klarheit und Wahrheit erachtet wird, ist nichts weiter als eine dumpfe Hirnsucht, die im günstigen Fall Aufschluss über die evolutionär gewachsene Abbildung der Realität im menschlichen Gehirn zu geben vermag. Dass Menschen ihre Hirnsüchte mit der Realität verwechseln, ist allerdings keine neue Erscheinung der menschlichen Geschichte.

Fünfzehn — Das klassische hebräische Schriftsystem kannte keine Trennung zwischen Buchstaben und Zahlzeichen, jedes Lautzeichen der Schrift konnte auch als Zahl verwendet werden. In der Zeit, in der dieses System entstand, gab es keinen Bedarf an großen Zahlen, es verfügt daher nicht über ein Stellenwertsystem wie die heute international (auch im Neuhebräischen) gebräuchlichen arabischen Ziffern. Stattdessen gab es eine Gruppe von Zeichen für die Einer, eine weitere für die Zehner und eine dritte für die Hunderter. Zwar gab es mit dieser Doppeldeutigkeit der Schrift immer wieder einmal Spielereien, aber im Alltagsgebrauch wurden die Zahlen sehr regelmäßig ausgedrückt, um Missverständnisse zu vermeiden. In diesem regelmäßigen Gebrauch gab es nur eine Ausnahme, und diese betraf die Zahl Fünfzehn. Um diesen Zahlwert zu notieren, wurde nicht Jod (10) und He (5) geschrieben, sondern Waw (6) und Teth (9) — denn die Buchstaben Jod und He sind eine Kurzform des alten Gottesnamens, der seit mindestens zwei Jahrtausenden so tabuisiert ist, dass sein Gebrauch gemieden wird. So kann in einer von Religion geprägten Gesellschaft auch fern jedes religiösen Kontextes die Vernunft auf der Strecke bleiben.

Vier — Auch die Römer haben Zahlen mit Buchstaben ihres Alfabetes notiert, und auch sie gingen dabei recht regelmäßig vor. Allerdings. Kannten auch sie eine Ausnahme in ihrer ansonsten völlig regelmäßigen Schreibweise. Die Zahl Vier wurde nicht gemäß der allgemeinen Regel als „IV“, sondern als „IIII“ geschrieben. Der Hintergrund dieser Ausnahme ist, dass IV die gängige Abkürzung des römischen Hauptgottes Jupiter (lat. Iove) war, und dass man deshalb die Verwendung dieser beiden Buchstaben zur Niederschrift einer Zahl als eine Form der Gotteslästerung ansah. Auf jedem mit römischen Zahlen beschrifteten Ziffernblatt einer modernen Uhr — ja, selbst auf einem solchen Ziffernblatt an einem christlichen Kirchturm, wo so etwas recht häufig zu sehen ist — legt die Schreibung der vierten Stunde als „IIII“ ein Zeugnis davon ab, dass inmitten aller Modernität die alten Götzen unverändert auf ihrem Thron sitzen und ihre mit Aberglauben überfütterte Macht gern auf die Mächtigen unter den Menschen übertragen.

Die Zahllosen — So selbstverständlich uns die Fähigkeit zum Zählen vorkommt, sie ist nicht angeboren oder natürlich, nicht einmal für kleine Anzahlen. Es gibt (in unserer Zivilisation als „primitiv“ bezeichnete) menschliche Kulturen, in deren Sprache es nur drei „Zahlwörter“ gibt, die als „eins“, „zwei“ und „viele“ übertragen werden könnten. Eine fröhliche Sorglosigkeit spiegelt sich in dieser sprachlichen Erscheinung, ganz so, als gäbe es im Miteinander dieser Menschen nur drei Zustände der Verfügbarkeit von Dingen, nämlich „ich habe noch eines“, „ich habe zwei davon und kann dir eines abgeben“ und „kein Problem, es ist genug da“. Wie könnte unsere Zivilisation doch profitieren, wenn dieser Teil der „Primitivität“ sich in ihr ausbreitete!

Triskaidekaphobie — Wer es erstaunlich findet, dass in Deutschland Menschen in irrationale Befürchtungen versinken, nur weil auf dem gerade vordersten Kalenderblatt als Wochentag ein „Freitag“ und als Tageszählung ein Dreizehnter zu lesen ist, der sollte daran denken, dass der Aberglaube noch wesentlich absurder möglich ist. In den USA haben viele Häuser „offiziell“ kein 13. Stockwerk, die Zählung geht von der 12 direkt zur 14. Die Tatsache, dass sich die abergläubische Angst nicht auf die 14. Etage verlagert, welche ja in Wirklichkeit die 13. ist, zeigt die kurzsichtige und deshalb uneinsichtige Idiotie des Aberglaubens. Aber bislang ist bei niemandem die Idiotie so weit gegangen, dass er ein dreizehntes Monatsgehalt abgelehnt hätte. Und. Das zeigt den Glauben, der auf der anderen Seite des Aberglaubens steht und der ebenfalls ein Glaube in Zahlen ist.

Sieben — Von den sieben „Weltwundern“ der Antike ist nur noch eines erhalten, und dieses sind die großen Pyramiden in der Nekropole zu Gizeh. An diesen monströsen Todmalen ist vieles beeindruckend, am meisten aber sicherlich die Tatsache, dass sie auch nach so vielen Jahrtausenden so gut erhalten sind, während jüngere Pyramiden der ägyptischen Herrscher viel stärker vom Zerfall betroffen sind. Der Grund für die gute Erhaltung der großen Pyramiden ist, dass daran offenbar hoch motivierte Menschen sehr sorgfältig und präzise gearbeitet haben, während spätere Bauwerke des antiken Ägypten mit Sklavenarbeit errichtet wurden und deshalb eine gewisse Schlampigkeit in der Ausführung aufweisen. Dies kann auf dem Hintergrund betrachtet werden, dass der ägyptische Staat in der Vierten Dynastie kein Geldsystem kannte, und dass deshalb die Abgaben an das Staatswesen (und damit an die herrschenden Priester und den Pharao) in Form von Naturalien und in Form von Arbeitsleistung zu erfolgen hatten. Offenbar führte der „Mangel“ eines abstrakten Zahlungs- und Tauschmittels bei vielen in diesem Staat lebenden Menschen zu einer intrinsischen Motivation, in ihrem Tun Qualität hervorzubringen, und diese Qualität hält dem Zahn der Zeit gut stand, bis auf dem heutigen Tag. Kaum gab es jedoch in Ägypten eine Form des Geldes (Edelmetall als Tauschmittel), kaum verlagerte sich der Wertbegriff auf dieses Abstraktum, schon waren die staatlichen Prunkbauten von jener Schäbigkeit der Ausführung geprägt, wie sie von Sklaven und gedungenen Arbeitern hervorgebracht wird. Und zwar. Bis auf den heutigen Tag. Einzig das Ausmaß der Schäbigkeit der produzierten Güter ist im Laufe der Jahrtausende immer mehr gewachsen — und zwar mit zunehmender Abstraktheit des einzig als Wert erachteten Geldes.

Existenz — Der Kosmos existierte, bevor er von messenden und zählenden Menschen wahrgenommen wurde, und er wird sich auch trefflich zu behelfen wissen, wenn sich kein messender und zählender Mensch mehr mit der Abbildung des Kosmos in seinem Hirne beschäftigt. Das Wort „Wahrnehmung“ deutet schon in seiner sprachlichen Form an, dass bestimmte Aspekte aus der Realität genommen und in dieser Form für wahr gehalten werden, während andere Aspekte der Realität für die konstruierte Wahrheit verworfen werden. Diese Abbildung im menschlichen Individuum hat nichts mit der Einsheit des Kosmos zu tun, sie ist in Wirklichkeit eine „Wahnnehmung“, jenseits derer es gut möglich ist, dass in der Realität nichts außer der Einsheit des Kosmos existiert. Und zwar ist diese „Wahnnehmung“ eine. Der kein Mensch entkommen kann. Es wäre gut, wenn dies jedem Menschen in jedem Moment seines Seins bewusst wäre.

Kreuz-Weise? Kreuzweise!

Mensch Jesus, bleib oben,
Sonst schlagn die dich tot!

Bettina Wegener

Jesus aus Nazaret starb nicht am Galgen auf Golgata.

Er starb und stirbt Tausende und Tausende der Tode. (Und gar mancher dieser Tode ist schlimmer und grausamer als das barbarische römische Justizmorden.)

Er — der übrigens nur wenig von formeller Religion gehalten haben soll — starb das erste Mal, als Saulus auf dem Wege nach Damaskus seine historisch gewordenen Hirnblitze ( Apg. 9 ) sah und darin einen nützlichen Leichnam für seinen gekränkten Narzissmus halluzinierte und aus diesem Kadaver eine Religion zimmerte.

Er — der übrigens niemals selbst auch nur einzige Zeile niedergeschrieben hat, die sich bis heute erhalten hätte und der deshalb offenbar nichts von einer auf ihn basierenden Schriftreligion hielt — starb bei allen gläubigen Empfängern der Briefe, die dieser Saulus lieber unter seinem neuen Namen Paulus verfasst hat, um der Welt zu erzählen, dass seine Halluzination der neue und einzige Gott für alle sei. Dass dieser sich Paulus nennende Saulus einer jüdischen Sekte angehörte, deren bis zur Neurose perfektionistische Form der Religionsausübung von Jesus immer wieder in ätzender Form kritisiert wurde, ist offenbar niemandem aufgefallen, und es schert sich bis heute keiner darum. Schon Paulus hat sich einen Dreck für die wirkliche Person hinter diesem Jesus interessiert und fand seine eigenen Trugbilder viel attraktiver — und genau so geht es bis heute den Judasfreunden, die diesen ganzen Unfug glauben und die sich Christen nennen.

Er — der einmal gesagt haben soll: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“ — starb, als die paulusgläubigen römischen Sklaven singend und schafdoof in den Tod gingen und damit das System der Sklaverei erhielten. Ganz so. Wie es Paulus gefiel, damit er auch weiter Gefallen an seinem Sklaven hat. Er stirbt bis heute, wenn Christen in einem bekannten Danklied den Satz „Danke für meine Arbeitsstelle“ singen und damit die heutige Form der abstrakten Arbeit heilig sprechen, den Armen zur Knechtschaft und den Besitzenden zum sprudelnden Reichtum und zum Wohlgefallen.

Er — nach Aussagen seiner frommen Gegner ein „Fresser und Weinsäufer und Freund aller Sünder“ — starb, als Menschen ihre Sexualität von sich abspalteten und sich deshalb psychisch und körperlich selbst zerfleischten. Bis heute stirbt er in jeder Neurose, in jeder Bulimie, in jeder Unfähigkeit zur Liebe. Und. Alle diese Krankheiten sind nur moderne Bastardkinder der älteren Krankheit der Askese, der sinnlichen Selbsttötung als Lebensentwurf.

Er — der auf die formelle Anrede eines Fragestellers einmal erwidert haben soll, dass er nicht „gut“ genannt sein möchte, weil niemand als Gott allein gut sei — starb, als die Gläubigen des Paulus ein paar Jahrhunderte später erbost darüber stritten, ob ihr Jesus nun wesensähnlich oder wesensgleich zu Gott sei. Und. Als die Vertreter der letzteren Auffassung, die aus diesem Streit als Sieger hervorgingen, die Vertreter der ersteren Auffassung zu gottlosen Menschen erklärten, die für ewig in der Hölle zu brutzeln haben. Und. Genau So. Gilt es bis heute.

Er — der überliefert wurde als einer, der jede Form der Herrschaft durch Menschen über Menschen nicht für den Willen Gottes hielt — starb, als der heilige Hirnfurz des Paulus unter dem römischen Kaiser Konstantin zur neuen Staatsreligion des imperium romanum wurde. Als. Der von Paulus deformierte Jesus die staatliche Gewalt heiligen musste, so mörderisch sie auch wütete. Das tut dieser Jesus bis heute von seinem heiligen Galgen herab, dieser nützliche Kadaver der Herrschenden und Besitzenden und Großmörder aller Zeiten.

Er — der von der frommen Elite seiner Zeit gesagt haben soll, dass sie sich vor die Türe stelle, die in ein besseres Leben führt; dass sie dort selbst nicht hindurchgingen, aber auch niemanden anders hindurchließen — starb und stirbt am Petersplatz, wo sich ein Hurenbock nach dem anderen hinstellte und sich als „Heiliger Vater“ anreden und als Stellvertreter Gottes betrachten ließ und lässt, ja, bis heute so anreden und betrachten lässt. Auch. Von den staatlichen und wirtschaftlichen Verdummungsanstalten in Form des Rundfunks und der Presse.

Er — der überliefert wird als einer, der gleich einem durchgeknallten, auf einem Trip hängengebliebenem Hippie jede Form der Gewalt in jeder Situation abgelehnt haben soll — starb und stirbt, wenn sich seine selbsternannten Verwalter gestikulierend vor die Waffen stellen und in „seinem“ Namen ihre Zaubersprüche abmurmeln, damit diese Waffen auch ja ein gesegnetes Morden für die Wahrung der Besitzstände der Herrschenden und Besitzenden vollbringen. Er stirbt auch im „geistlichen Beistand“ für die Soldaten, damit diese auch ja ein billiges und williges Kanonenfutter abgeben.

Er — der angeblich in den formellen Gottesdiensten seiner Zeit so viel Heuchelei erblickte und dies in derart trefflicher Form zum Ausdruck brachte, dass man ihn schließlich deswegen umbrachte — starb und stirbt auf den Schlachtfeldern der vielen vielen „heiligen“ Kriege in „seinem“ Namen, vom ersten Kreuzzug, über den Tag, an dem der Katholik Adolf Hitler die Worte „Wir werden in diesen Krieg ziehen wie in einen Gottesdienst“ aus den Volksempfängern schallen ließ, bis hin zu den jüngsten crusades US-amerikanischer Präsidenten.

Er — der berichtet wird als einer, der in Bezug auf eine Ehebrecherin einmal die recht anzüglichen Worte „Ihr wird viel vergeben, denn sie hat viel geliebt“ gesprochen haben soll — stirbt in jeder mit der politischen Macht der heutigen Paulusjünger, Galgenanbeter und Judasfreunde verhinderten Empfängnisverhütung oder Abtreibung, bei der ein Mensch draufgeht, lebenslang als Krüppel leidet oder — noch viel schlimmer — als unerwünschter Mensch (oft gar als Ergebnis einer Vergewaltigung) psychisch so deformiert wird, dass von einem Leben keine Rede mehr sein kann.

Er — der so viel von der Liebe erzählt haben soll — stirbt in jedem Entwurf einer kalten, körperlosen Form des Miteinanders, auf welchem die Gläubigen des Paulus den Stempel „Liebe“ geprägt haben sollen, bis hin zum heutigen Geschäft mit der von unterbezahlten Elendsarbeitern ausgeübten „Pflege“, bei dem vor kirchennahe Organisationen ihren Schnitt machen. Und. Er stirbt in der Betrachtung des Geschlechtsverkehrs als „eheliche Pflicht“, die man zu erfüllen hat, fast so, wie den „Dienst am Vaterland“.

Er — von dem die unbekannten antiken Autoren einen ganzen Stammbaum seines Vaters Josef überliefert haben — stirbt an der psychischen Kastration, die sich im Gefasel von der „unbefleckten Empfängnis Mariens“ Bahn brach und bricht und darauf basierend einen Verzicht auf jeglichen Sexualgenuss fordert. Vieles von der Kälte in den heutigen Gesellschaften ist eine Spätfolge dieser christlichen Sexualverdammung und sich über Jahrhunderte erstreckenden religiösen Verschneidung der Gläubigen. Welchen Zweck. Der Stammbaum dieses Mannes da haben soll, kann einem auch der geschwätzigste Theolügner des Christentums nicht in einleuchtender Weise erläutern. Deshalb redet man in den Lügendiensten auch nicht so viel darüber, sondern fordert lieber die Menschen zur Enthaltsamkeit auf.

Er — der zwar kein Asket gewesen sein soll (vielleicht sogar ein kleines Wämplein hatte, so gut, wie er sich oft irgendwo einlud), aber zu einer allgemeinen Haltung der Sorglosigkeit in Fragen des Essens aufgerufen haben soll — stirbt in der Heiligung des Konsums. Und. Zwar genau so, wie er schon vorher in der so genannten „Eucharistie“ starb, dem magischen Essen einer trockenen Hostie, die im faulen Zauber des „Gottesdienstes“ als heilbringendes Opfer aus Menschenfleisch gedacht ist. Der Judas, auf dem ihr Christen euren mörderischen Judenhass basieren lasst, der hat ihn „nur“ verraten und verkauft, aber ihr Christen esst ihn auch noch auf!

Er — der doch schon so lange tot ist, dass sich niemand sicher sein kann, dass er überhaupt einmal gelebt hat — starb und starb und stirbt und stirbt und wird immerfort gemordet. Und. Alle seine Mörder sind brave Christen, die dem Paulus jedes seiner eiskalten Worte abgekauft haben und sich deshalb einen Scheißdreck für Jesus interessieren. Weil. Sie sich auch sonst einen Scheißdreck für Menschen interessieren, jedenfalls für andere Menschen als sich selbst.

Und. Er — der so viele warme und noch viel mehr wirre Reden gehalten haben soll — kann doch gar nichts dafür, dass Paulus so einen tollen, goldenen Galgengötzen aus ihm geschnitzt hat. Niemand interessiert sich für seine Reden. Wenn sich die Christen für Jesus aus Nazaret interessierten, gäbe es weniger Christen. Die Christen interessieren sich mehr für Paulus, der ihren Narzissmus heiligt, für gutes Essen, dass ihnen alles andere ersetzen muss, für die Abwehr ihrer Angst, die sie in der Religion finden und für ein neues Auto und einen größeren Fernseher — auf wie viel und wessen Blut dieser „Segen“ gedeiht, ist ihnen dabei recht gleichgültig. Und. Die Christen interessieren sich brennend für die Unterdrückung jeder Strebung, die ihren primitiven, barbarischen und narzisstischen Interessen zuwider läuft. Deshalb stört sich keine christliche Kirche jemals an einen Krieg oder an diesem brutalen Gemetzel an ganzen Völkern und Kulturen, das mit dem Wort von der „Globalisierung“ bezeichnet wird. Sie. Stört sich auch niemals an der Indoktrination der Kinder in staatlichen Schulen und an der Unterdrückung von anders gläubigen Menschen, sondern macht aktiv mit.

Verstehst du, Schwester?

Das ist der Grund, weshalb ich kein Christ sein kann. Ich habe nicht nur die Gewalt des Christentums am eigenen Leibe gespürt, ich habe zu allem Überfluss auch noch die Bibel gelesen. Ich müsste mich selbst belügen, um Christ zu sein. Und? Wie soll ich das anstellen? Ich glaube diesem Paulus und allen seinen Nachfolgern nicht ein einziges, den Menschen mit heftig knallender Angstpeitsche eingepeitschtes Wort.

Das verstehst du nicht, Schwester?

Deine Dummheit, Schwester, ist selbstverschuldet. Habe den Mut, vom Gehirnbesitzer zum Gehirnbenutzer zu werden, und du wirst ganz schnell verstehen, warum unter den vielen tausend Dankgebeten der christlichen Religion nicht einmal ein Dank für den Verstand des Menschen hörbar wird. Der Verstand muss in der Religion des Paulus und des Judas unterdrückt werden, denn er nimmt dieser psychischen Fessel ihre Kraft.

Wenn du bei deiner Dummheit bleibst, überrascht mich das nicht. Du reihst dich in eine lange Reihe von dummen Menschen durch die Zeiten ein und glaubst dabei den Beistand eines Jesus zu haben, der gesagt haben soll: „Der Weg ist breit, der ins Verderben führt, und viele sinds, die auf ihm gehen. Aber der Weg ins Leben ist eng, und nur wenige gehen darauf.“

Wenn du mich nicht verstehst, wenn du mich als einen Ungläubigen, Gottlosen, vom Teufel Besessenen ansiehst, denn reihst du dich in diese lange lange Reihe durch die Zeiten ein. Und längs dieser Reihe stehen die rauchenden Scheiterhaufen und die von Raben umflatterten Galgen und die mit Schmerz umflochtenen Räder und die Folterkammern und die Bordelle des Vatikans und legen ein zum Himmel schreiendes Zeugnis von den Zeiten ab, in denen die christliche Religion Grundlage der Gesellschaft war. Der Gott, an den du glaubst, der Gott, für den Zeit keine Bedeutung hat, wird die Geschichte genau so sehen — und deine Position darin. Und das. Ist der Platz den du selbst im Geschehen einnimmst, meine stinkende Schwester. Augen und Ohren und einen Kopf hast du: Zu den Risiken und Nebenwirkungen deiner Haltung schlage ein beliebiges Geschichtsbuch auf, und zu Jesus aus Nazaret schlage deine Bibel auf und vergiss mal für eine Woche den Paulus!

Und wenn du denn immer noch nicht verstehst, meine kindische Schwester, denn ist das dein Problem. Ich bin dafür nicht zuständig, lass mich bitte damit in Ruhe. Und wenn du es irgendwann, wenn die Barbarei sich wieder ausbreitet, zu meinem Problem machen willst und mich in meiner Andersgläubigkeit — es gibt keinen Menschen, der ungläubig wäre — bedrängst und verfolgst, denn wisse, dass ich dir nicht eine andere Backe hinhalten werde, sondern für das Recht auf mein verdammtes, von Geistarmen wie dir ständig angeknabbertes Dasein einstehen werde. Wenn es wirklich sein muss, auch in einem Kampf auf Leben und Tod. Jesusse, die wie ein blökendes Schaf freiwillig zum Metzger trotten, hatte diese ganze Geschichte schon genug. Die halten sich alle für so weise durch das Kreuz, aber sie können mich mal kreuzweise.

Und jetzt geh, Schwester! Du hast noch etwas zu lesen…

Wer sich hier angesprochen fühlt, ist gemeint. Wer männlichen Geschlechtes ist, lese einfach Bruder. Wer kopfschüttelnd und voller Unverständnis diesen langen Text gelesen hat, verzeihe mir bitte, aber nach diesem Gespräch mit einer christlichen Fundamentalistin musste es einfach raus, mir wäre sonst die Gallenblase explodiert — deshalb ist vieles auch ein bisschen roh formuliert.

Opfer

Ein „hübsches“ Beispiel dafür, wie im Streben der heutigen Blendredner nach kaltem Schönsprech angesichts des Üblen der irrationale Unfug längst überwundener Zeiten neu geboren wird, ist das deutsche Wort „Opfer“.

In seiner ursprünglichen Bedeutung meinte dieses Wort einen Abwehrzauber durch eine bewusste, die Schrecken des Schicksals vorauseilend vorwegnehmende Gabe an irgendwelche personal, nach dem Vorbilde des Menschen gedachten Weltenlenker, die sich mit dem „freiwillig“ gegebenen Opfer als eine Art „Schutzgeld“ besänftigen lassen und begnügen sollten und deshalb im Angesichte des Geopferten nicht den dräuenden Schaden über die Gemeinschaft der Menschen ergießen sollten. Wie sehr die so bedienten Gottheiten im Zuge einer solchen Frömmigkeit zum Widerspiegel der Willkür der menschlichen Herrschaft gerieten (und auf diesem Wege die Herrschaft vergöttlichten) und wie sehr ein solcher magisicher Aberglaube zum Zement der Herrschaft und ihres willkürlichen Gewaltanspruches taugt, wird durch bloßes Betrachten offenbar. Untrennbar mit diesem Konzept verbunden ist in einer christlich geprägten Gesellschaft die auf Paulus zurückgehende theologische Konstruktion, dass Jesus aus Nazaret sich stellvertretend für alle daran Glaubenden am Galgen geopfert habe und ihren Tod auf sich genommen habe, damit diese leben können, ja, in Erfüllung narzisstischer Süßträume ewiglich leben können.

Der moderne, nur scheinbar sachliche Ge- und Missbrauch dieses Wortes ist ein völlig anderer und dient nur zur Verblendung der Lesenden und Hörenden. Wenn immer die Gewalt — sei es die menschliche Gewalt des Alltags in einem Wettbewerb jedes Menschen gegen jeden Menschen auf einem Schlachtfeld voller Überfluss und auch jene vor allem im Maßstab monströsere Gewalt des Krieges oder aber auch das wuchtige Ablaufen natürlicher Prozesse, das man eine Katastrophe heißt — aus Menschen Geschädigte und Getötete macht, so wollen die Blendredner das klare Sprechen und Schreiben von Geschädigten und Getöteten vermeiden, weil es bei den Hörenden einen zu deutlichen Eindruck der Tatsächlichkeit des Geschehens hervorruft und im so geweckten Hirne vielleicht auch immer wieder einmal die Frage nach den Gewalttätern und ihren persönlichen Vorteilen oder nach der Hilflosigkeit des nützlichen Gottes im Dienste dieser Gewalttäter weckt. Solche Fragen sind schädlich für die eingeforderte Verherrlichung der Gewalt. Da kommt den Blendrednern der classe politique und den von ihnen in Brot gehaltenen Speichelleckern in Glotze und Journaille die Möglichkeit eines solchen sprachlichen Rückgriffes auf das psychische Material magischer Konzepte gerade recht, und sie ernennen die geschädigten und getöteten Menschen kurzer Hand zu Opfern. Dass ihre pfäffischen Schergen von der Judaskanzel hinweg weiterhin das Wort im älteren, primitiv-magischen Sinne gebrauchen, passt prächtig in die Absicht des sprachlichen Gewaltverberges. Und. Führt im Kontext einer christlich durchjauchten Gesellschaft zu der durchaus erwünschten, vorbewussten und doch psychisch wirkmächtigen Auffassung vieler Menschen, dass sie nicht mehr zu Betroffenen der Gewalt werden können, weil andere ja an ihrer Stelle zu Opfern geworden sind — die latente Entsolidariserung, die sich mit diesem mindfuck verbindet, ist dabei ein zusätzlicher Gewinn für die Profiteure der Gewalt.

Den wenigsten Menschen ist diese Manipulation durch Sprache bewusst. Doch wer mit offenen Ohren durch die Straßen geht, kann hören, dass sich zumindest bei den Pubertierenden eine dumpfige Einsicht regt, denn diese nehmen sich das umgepresste Wort „Opfer“ und verwenden es unter sich genau so böse, wie die Sprecher des undeutlichen Deutsch und Gutsprecher der Gewalt böse sind. „Opfer“ gilt unter ihnen als derbes Schimpfwort, und es wird auch gern einmal als Adjektiv verwendet, um etwas herabzuwürdigen — „Wie opfer ist das denn?!“ meint keineswegs die Haltung eines Menschen, der sich in der gern geforderten und moralisch verherrlichten Form für andere hergibt, sondern einen Zustand von Schwäche, Ausgeliefertsein und völliger Wehrlosigkeit gegenüber der erlittenen Gewalt. Das Unbewusste der so sprechenden, jungen Menschen hat sehr genau aufgefasst, was mit der Sprache und auf diesem Weg auch mit dem Denken der Sprechenden angestellt werden soll.

Mit Gruß an Tugrul

Fit For Death

Er ist so symptomatisch für diese Zeit: Der Geschäftsraum, an dem der Denkende und Fühlende vorüber geht. Überm Eingang die blende Reklame in freundlichen Farben, die diesen Raum als ein „Fittness-Studio“ ausweist. Darinnen Menschen. Die an Maschinen stehen und mechanische Tätigkeiten ausführen, die sich qualitativ nicht von der abstrakten Arbeit unterscheiden, die aber im Unterschied zu dieser nicht entlohnt werden. Sondern sogar Geld kosten. Diese Menschen tun das, um sich fitt — das heißt zu Klardeutsch: angepasst — für die richtige abstrakte Arbeit zu machen, um ihren eigenen Marktwert zu erhöhen. Ebenso symptomatisch der Platz vor dem Eingang, der mit weißen Linien unterteilt ist. Ein Schild weist ihn als „Kundenparkplatz“ des „Fittness-Studios“ aus und winkt allen anderen Menschen, die dort ihr Auto abstellen wollen, mit dem dräuenden Abschlepphaken. Der Parkplatz ist wichtig, denn das „Fitness-Studio“ steht ein wenig abseitig, und um aus den nächstliegenden Wohnquadern dorthin zu gelangen, müsste schon ein Fußweg von über vierzig Metern zurückgelegt werden. Das ist den Menschen, die Kunden eines solchen „Fitness-Studios“ werden sollen, nun wirklich nicht zuzumuten. Denn diese Menschen. Die sich in dieser schweißgetränkten Selbstfolterkammer zu besseren Batterien für den betrieblichen Produktionsprozess machen wollen. Sie vermeiden in ihrer sonstigen Zeit jede noch so kleine Bewegung, sie würden sogar noch vom Fernseher zum Kühlschrank mit dem Auto fahren, wenn es dort nur eine Straße gäbe. Mit welcher tänzelnden Heiterkeit der Fühlende und Denkende doch an dieser Mühsal vorbeischlendern kann, in der sich die Menschen ihren Bewegungsdrang, ja, ihren Drang zum Leben abtöten! Und. Mit welcher Betrübnis!

Über alles wächst Gras

Intellektuell hervorragende Menschen glauben in ihrer großen Mehrheit nicht an die christliche Religion, aber in der Öffentlichkeit und in der Politik halten sie diese Tatsache geheim, weil sie Angst haben, ihr Einkommen zu verlieren.

Bertrand Russell

Fremde Ware — Als ein Mensch, der zwar (wann immer er sich Tabak leisten kann) raucht, aber kaum kifft, kenne ich dennoch die Hanfpflanze sehr genau, während ich kaum etwas über die Tabakpflanze weiß. Denn viele Menschen aus meinem Umfeld wurden durch die Kriminalisierung dieser Pflanze dazu gedrängt, selbst in aller Heimlichkeit ein paar Pflänzchen für ihren Bedarf zu kultivieren, um nicht die überhöhten Schwarzmarktpreise für ein dope von oft zweifelhafter Qualität zu zahlen — zumal dieses Geld auch nicht gerade in die Schaffung ewiger Blumenkraft fließt. In der Folge weiß ich sehr genau und aus direkter Anschauung, wie Hanf aussieht, wie sich seine Blätter und Stängel anfühlen, wie er riecht und wie seine Blüten gebildet sind, dies sind alles Dinge, die ich über den von mir recht regelmäßig konsumierten Tabak nicht weiß. Wie doch das völlig unsinnige Verbot einer Pflanze dazu führen kann, dass der entfremdete, zum Fetisch gewordene Charakter aller gehandelter Ware zum Gegenstand der direkten Erfahrung wird!

Von Gott — Zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschheit zählt mit Sicherheit der Schlafmohn. Schon aus der Jungsteinzeit (vor rund 8000 Jahren) gibt es archäologisch erschlossene Spuren eines systematischen Anbaus der hübschen Blumen mit ihren lila Blüten; die frühesten bekannten schriftlichen Überlieferungen der Mohnkultur finden sich in 6000 Jahre alten Keilschrifttafeln der Sumerer. Der Mohn hatte auch einen Namen in diesen Tafeln, er war die „Freudenpflanze“. Der getrocknete, milchige Saft, der durch Anritzen der Samenkapsel gewonnen wurde (und der immer noch auf diese Weise gewonnen wird), er war in der Tat eine Freude. Er gewährte dem Schlaflosen Schlaf und dem Kranken Schmerzfreiheit; er wird wohl auch als frühestes bekanntes Narkotikum viele schmerzhafte medizinische Eingriffe erst ermöglicht haben. Kaum abzusehen, wie viele Leben diese Blume während der größten Zeit ihrer zivilisatorischen Verwendung wohl erhalten und wie viele sie wohl erträglich gemacht hat. Gewiss, auch als Droge fand das Opium Verwendung, denn noch verdammte keine lustfeindliche Moral die Freude am Rausch. Im Jahre 214 unserer Zeitrechnung wurde eine Inventur des kaiserlichen Palastes zu Rom erstellt, bei der unter anderem siebzehn Tonnen Opium entdeckt wurden. Beendet wurde die große zivilisatorische Errungenschaft des Opiumbaus erst durch ein Christentum, das jede Krankheit als eine Strafe Gottes betrachtete, die der Mensch hinzunehmen habe — und das deshalb die Anwendung von schmerzstillenden Mitteln zunächst für die eigenen Gläubigen und später für ganze Kulturkreise verbot und das dieses Verbot zunehmend mit staatlicher Gewalt durchsetzen konnte (und es bis heute mit Gewalt durchsetzt). Der einst so freudevolle Saft des Mohnes galt unter der Lebensverachtung dieser Lichtverneiner als ein Werk des Satans, und der Schmerz wurde stattdessen als ein Gesandter Gottes angesehen. Unter Karl dem Großen wurde das einst christliche, später staatsreligiös römische Verbot im Jahre 810 unserer Zeitrechnung erneut zum Gesetz für alle Menschen im hl. römischen Reich deutscher Nation, und es gilt bis heute für alle Menschen, auch für solche, die dem lebensverachtenden Irrsinn der christlichen Religion nicht anhängen. Es gilt selbst für Menschen mit schweren Schmerzen, denn die bürokratischen Anforderungen an die Verschreibung von Morphium zur Bekämpfung schwerer Schmerzen sind in der christlichen Welt derart hoch, dass viele Ärzte den Aufwand scheuen. Wenn heute schwer kranke Menschen unter unzureichend behandelten, höllischen Schmerzen verrecken müssen, denn ist dies direkt auf die kulturellen Wirkungen einer Religion zurückzuführen, die sich selbst in satanischer Schamlosigkeit als eine „Religion der Liebe“ vermarktet. Wer das Opium oder sein heute leichter illegal erhältliches Derivat Heroin unter der Herrschaft dieser „Liebe“ hingegen als Droge benutzt, wird in einem kriminellen und skrupellosen Schwarzmarkt gestoßen und kann noch froh darüber sein, wenn er sich neben dem gewünschten Stoff nur so verhältnismäßig „harmlose“ Substanzen wie Waschmittel in die Vene pumpt und keine wirklich gefährlichen Gifte. Die erbärmliche Verelendung der junkies ist die sich in der „Streckung“ der Droge selbst erfüllende Falschprophetie vom Schlafmohn als Werk des Teufels — und das wirklich Teuflische im Prozess, der über die Gesellschaften abläuft, versteht es immer wieder prächtig, sich als fromm zu tarnen.

Ein Prost auf das Blut des Herrn — Und der Industrielle betete, nachdem er die Zahlen aus dem Controlling mit sichtbarem Gefallen überflogen hatte, voller Dank vor seinen Brauereien und Schnapsbrennereien und sprach: „Mein Herr Jesus, ich danke dir dafür, dass du am Abend deines Todes etwas Alkohol in der Form von Wein getrunken hast und dass du dies auch in die Bibel hast schreiben lassen. Ich danke dir dafür, dass du dafür gesorgt hast, dass der Alkohol in einem zentralen Ritual einer sich auf dich berufenen Religion unverzichtbar geworden ist. Ich danke dir, dass ich deshalb gesellschaftliche Anerkennung, den Schutz des Staates und deiner Kirchen und ein sicheres Einkommen von den ganzen Trinkern habe, und dass ich nicht so ein Krimineller bin wie dieser verkommene, sündige Haschdealer da hinten in der Ecke am Rande der Gesellschaft, verflucht und verknastet sei er.“ Seine Fabriken, der Segen seines Reichtums, sie standen auf einem Berg von Säuferlebern, höher als der Hügel Golgata. Im Geweih des Hirsches, den die Werber auf den Leberkleister drucken lassen, erscheint ein Kreuz, den Pfaffen und Bankern ein Wohlgefallen. Auf der linken Seite des Kreuzes das elende Siechen der vom Suff zerrütteten Familien, auf der rechten Seite das leise Wimmern der verängstigten, für Nichtigkeiten zu Brei geschlagenen Kinder, deren Zukunft schon beendet ist, bevor ein selbstbestimmtes Leben nur begonnen hätte. Im alkoholischen Atem, der die Luft durchsetzt, dünstelt Freitod. Dahinter der Glockenturm, laut in den Abend bimmelnd, weil da einer am Altar steht, der mit neurotischer Sorgfalt und gut geübter Feierlichkeit die Worte abliest, die einen Becher Wein in das Blut Christi verwandeln sollen. Und über alles, über diesen ganzen durch die Jahrhunderte hindurch gepflügten Gottesacker, wächst Gras.

Für „Menne“

Ungünstiges Verkehrsmittel

Vielleicht würde der einzigen großen Verheißung der christlichen Religion an die gläubigen Menschen, der Verheißung eines erfüllten und ewigen Lebens im Paradiese, ein kleines bisschen mehr wirkliche Kraft innewohnen, wenn sich dieser verhießene Ort auch mit anderen Verkehrsmitteln als immer nur mit dem Leichenwagen erreichen ließe.