Wenn es ein Sonnentag im Mai ist, ganz hell und die radfahrende Haut mit schönem Wind streichelnd, wenn man eines solchen Tages den brütenden Moloch der Stadt zu verlassen gedenkt und auf diesem Wege durch seine längst enteignete, deflorierte, dem nackten Gewinnstreben geopferte, im Zerfall zuckende Heimat fährt, denn greift eine kaum passende Traurigkeit würgend nach dem Herzen. Das kalte Geschwätz der Sozialpädagogen dringt in das Ohr, das leere Gelaber dieser Assimilatoren und Erwachsenenerzieher, die mit ihrem verachtenswerten Seelengeficke wahrlich schon genug von meinen Freunden in den Freitod getrieben haben, als sie aus ihnen mit professioneller Beflissenheit geschäftlich verwertbare Funktionseinheiten machen wollten. Oh ja, sie sind jetzt alle hierher gezogen, weil es ja so schön „alternativ“ hier ist, und sie bringen das mit, was sie wohl für ihre „Kultur“ halten, eine Kultur der Aasmaden des Konsums. Ich steige vom Fahrrad ab, um gegen den ersten Impuls nicht zu fliehen, aber ich beschließe auch, mir diese Wortfetzen aus den Menschzerfetzern nicht anhören zu wollen, und so stecke ich die Stöpsel in die Ohren, die den geistlosen Krach der Straßen mit Musik überlagern, und ich drücke auf den kleinen Taster, der das nächste Stück abspielt.

Wie passend es doch ist. Atom Heart Mother von Pink Floyd, ein großartiges Stück, das die Kälte, Faszination und Beliebigkeit aller Formen in der zerfallenden Postmoderne wie mit einer Abtastnadel zerlegt und in Musik wandelt. Da ich an meinen Ohren hänge, verzichte ich auf eine alles in den Schatten stellende Lautstärke, erlaube mir, auch noch ein paar Klänge der Umgebung zu hören und setze mich auf ein sonnenbeschienenes, warmes Stück Straße. Die Augen geschlossen, damit man mir nicht gleich ansieht, wie sehr mir zum Weinen zumute ist — denn genau aus einem solchem Grund, wegen so etwas unerhörtem und gefährlichem wie dem Weinen in der Öffentlichkeit, bin ich einmal von der Polizei verhaftet worden und „zu meinem eigenen Schutz“ und natürlich gegen meinen Willen in eine psychiatrische Klinik verbracht worden, wo man mich eine Woche lang wegschloss. (Und nein, ich war nicht verwirrt, ich war einfach nur traurig, und ich hatte und habe allen Grund dazu. Es ist doch beachtlich, wie einem das Fühlen der Traurigkeit ob eines beschädigten Lebens noch verweigert wird, wie man sich in plumpen Spaß oder doch wenigstens in Stumpfheit üben soll, um nicht aufzufallen und deshalb gesellschaftlich sanktioniert zu werden.) Es ist die stete Kälte und Gewalt, die uns Menschen allen. Diese kleinen Gesten aufzwingt, die stete, tägliche Kälte und Gewalt.

Nach gut sechs Minuten, „Breast Milky“ hatte gerade begonnen, öffnete ich die Augen aber, weil sich ein lautes, klapperndes Geräusch mit der Musik durchmischte, ein Krach, der sich nicht selbst erklärte und der meine Aufmerksamkeit erzwang. Es handelte sich um eine Horde von vielleicht dreißig Menschen, die uniform gekleidet und stockklappernd nordic walking betrieben und sich offenbar darin gefielen, sich dabei so auf dem flanierenden Zeigen und Sehen zu präsentieren. Es ist inzwischen sogar schon chic geworden, wenn man ohne Not eine Gehhilfe verwendet. Ob es wohl auch bald „sportliche“ Rollstühle geben wird, deren tägliche Benutzung ganz toll für Herz, Kreislauf und Leistungsfähigkeit als Batterie im betrieblichen Produktionsprozess ist?

Ich zog es vor, rasch auf das Rad zu steigen und weiterzufahren, raus aus dem Moloch, die fabrikneuen Trümmer meiner zerstörten Heimat hinter mich lassend. In mir die Erinnerung an die dort entfernten Menschen, die so roh und unverbildet waren, dass sie ein Wort wie „Solidarität“ nicht in den Mund nahmen, sondern einfach lebten. Brach liegt alles, aber auch alles fern. Ich bin froh darüber, dass es endlich wieder so warm ist, dass es eine Freude ist, draußen zu sein. Und ich habe nicht mehr die Absicht, auch nur noch einen einzigen Winter zu erleben. Bei Lichte betrachtet, ist das bisschen Lust den ganzen Schmerz doch gar nicht wert.