Piratenpartei!

Vor etwas mehr als einer Woche hat David Christopher Georg Lauer in seinem Blog — nachdem das Ergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen nicht so befriedigend für die Piratenpartei war — die offene Frage an alle gestellt, die euch nicht wählen, warum sie euch eigentlich nicht wählen.

Dies ist meine Antwort, die weder in einen Blogkommentar passt noch in einer flüchtigen Viertelstunde geschrieben werden konnte. Wer schnell lesen und auffassen möchte, ist hier am falschen Ort. Oder. Um es in diesem bei euch, Mitglieder der Piratenpartei, so gern gepflegten Soziolekt zu sagen:

tl;dr — Ihr werdet die Grünen 2.0, und die braucht niemand. Auf diesem Weg seid ihr weit vorgeschritten und jetzt in der Beta-Phase. An einer anderen Entwicklung habt ihr kein kommuniziertes und wirksames Interesse. Wenn ihr das nicht lesen wollt, schließt einfach jetzt das Browserfenster und kreist um die eigene Achse, bis ihr und euch zu schwindeln beginnt! In der folgenden halben Stunde Lesens wird alles noch viel unerfreulicher.

Warum ich annehme, dass ihr kein Interesse daran habt, das zu lesen? Schon der Herr Lauer hat nur die Frage gestellt, warum man nicht die Piratenpartei wählt; er hat nicht die Frage gestellt, warum 98 Prozent der sich ins Wahllokal schleppenden Menschen ihr Kreuz an einer anderen Stelle gemacht hat. Ganz so. Als gäbe es keine Alternative zu euch, die ihr euch einmal als Alternative angeboten habt. In der Arroganz habt ihr längst Bundestagsniveau erreicht, ihr Piraten, und ihr merkt es nicht einmal.

Ich muss im Folgenden ein kleines bisschen ausholen, bevor ich auf die Fragen des Herrn Lauer eingehen kann. Ich hoffe, dass es beim Lesen nicht zu sehr ermüdet. Auf die für mich sonst unentbehrliche ätzende Ironie, mit der ich „politische“ Themen auf Genießbarkeit würze, verzichte ich so weit, wie es mir gerade möglich ist — aber ein bisschen angewandter Humor ist leider vonnöten, um sich den Wahnsinn erträglich zu machen.

Vorab Eins

Zunächst einmal: Ich bin Nichtwähler. Aus Überzeugung. Ich werde mich erst dann als Obdachloser um einen Wahlschein bemühen — was zur Steigerung des Verdrusses gar nicht so einfach ist — wenn darauf ein Feld vorgesehen ist, auf dem ich mich meiner Stimme enthalten kann, damit mein so ausgedrücktes „Ich will niemanden und keiner Partei aus diesem Angebot das Recht einräumen, mich bei der Gestaltung der öffentlichen und gemeinsamen Aufgaben zu vertreten“ den angemessenen Niederschlag im Endergebnis findet und amtlich protokolliert wird. Bei jeder vergleichsweise unwichtigen Wahl eines Vereinsvorstandes oder eines Klassensprechers wird Menschen selbstverständlich die Möglichkeit einer Stimmenthaltung eingeräumt, die auch als solche protokolliert wird, in jeder Parlamentsabstimmung kann sich ein Abgeordneter der Stimme enthalten, ja, sogar in innerparteilichen Wahlen räumt sich die politische Klasse dieses Recht selbst ein; aber der wahlberechtigten Bevölkerung wird genau diese Wahlmöglichkeit vorenthalten. Und das für eine wichtige, geradezu gesellschaftskonstituierende Entscheidung mit weitreichenden und langfristigen Auswirkungen auf das Leben der davon betroffenen Menschen. Hinterher wird von Vetretern der classe politique an der Wahlbeteiligung gedeutelt, dass sich die Balken in den Diagrammen nur so biegen — im Zweifelsfall ist sie wegen des Wetters so gering, und nicht, weil zu einer Wahl gehört, dass man auch eine Auswahl habe. Allein die Verachtung der Wahlberechtigten, die sich in der Verweigerung einer Möglichkeit zur Stimmenthaltung Ausdruck verschafft hat, ist nicht etwas, was ich mir als großes, demokratisches Privileg, als „Wahlrecht“, andrehen lasse.

Vorab Zwei

In gewisser Weise wäre ich die ideale „Zielgruppe“ — ich sehe bei diesem menschenverachtenden Wort von Werbern immer Menschen im Fadenkreuz stehen — der Piratenpartei gewesen. Ich bin vom gegenwärtigen Zustand der repräsentativen Demokratie in der BRD vollständig abgegessen und sehe bei der Fortsetzung des gegenwärtig über die Gesellschaft ablaufenden Prozesses keine erträgliche Perspektive für mich selbst. Sehr viele Menschen, die mir etwas näher stehen, sind zu einer ähnlichen Ansicht gekommen und reagieren darauf in der ihnen eigenen, persönlichen Weise: Einige von ihnen stürzen sich in den klebrigen Traum des Irrationalismus — es ist unfassbar, wie viel dumme und fundamentalistische Religion und Neureligion es inzwischen wieder gibt — einige schlagen sich durch lang anhaltenden Missbrauch von Psychopharmaka leidlich funktionierend durch die Trübnis ihres Seins, einige haben noch die verzweifelte Hoffnung eines Schiffbrüchigen, der sich krampfhaft ans Firmament klammert, um den Kopf nach Luft schnappend über Wasser zu halten und dabei doch seine zunehmende Schwäche und die Aussichtslosigkeit seines nackten Kampfes in einer hungrigen Hölle voller Überflusses im Immer-wieder-Scheiterns spürt und dieses Fühlen nicht verdrängen kann.

Von „der Politik“ erwartet niemand mehr etwas, der es mit mir aushält.

Unter „der Politik“ ist in diesem Kontext das zu verstehen, was von der herrschenden Meinung (also den halb-staatlichen Rundfunkmedien und dem Presse- und Rundfunkapparat von drei Handvoll Milliardären) als „Politik“ bezeichnet wird — also ein künstlich emotionalisierter Personenkult, Nichts sagende Bullshit-Statements irgendwelcher als recht austauschbar empfundener Gestalten und die auch für Menschen mit schwächerem Denkmuskel unmittelbar wahrnehmbare Korruption aller politischen Strukturen, während das Leben eines bedeutenden Anteils der Bevölkerung von voranschreitender Verschlechterung, Armutsgefahr und Angst vor dem Verlust noch des wenigen Verbliebenen geprägt ist.

In alledem wird den Menschen, mit denen ich zu tun habe, ihr bisschen Heimat unterm Arsch weg enteignet. Selbst ein eher schmuddeliger Stadtteil wie Hannover-Linden wird in eine… sorry, ich kann es nur in sehr unsachlichen und ätzenden Worten sagen… alternativtümelnde Disneyworld-Hölle für Wohlstandsalternative, Sozialpädagogen und sonstige Grüne-Wähler verwandelt, die mit einem aus ihrer Brust dringenden spießigen Mief jede Lebendigkeit unter einem Berg von Ökobrötchen, Schmalspuresoterik und menschfernem Lehrer- und Besserwisser-Gelaber „aber das hat auch was Positives“ ersticken. Wohnungen werden systematisch entmietet, edelrenoviert, an ortsfremde Besitzende vermietet; die Polizei nervt inzwischen jede harmlose Ansammlung von nur drei Menschen mit willkürlichen und oft im unnötig aggressiven Ton durchgeführten Personenkontrollen; die Menschen, die dem objektiven Grau Lindens einmal eine reizvolle Farbigkeit gegeben haben, stören die Umwandlung jedes Miteinanders in einen sozial optimierten Geschäftsvorgang und sind im Straßenbild nicht mehr erwünscht, was man sie auch deutlich spüren lässt.

Ich lese und höre von Menschen aus anderen Teilen Deutschlands, dass es andernorts nicht anders aussieht.

Eine fressende Tristesse breitet sich aus in Deutschland. Sie ragt noch nicht in jedes Leben hinein, aber sie ragt in immer mehr Leben hinein. Der Hartz-IV-Terror — die Willkür der Jobcenter gegenüber Menschen, deren Arbeiten niemand mehr angemessen bezahlen will, ist nichts anderes als mit der Angstpeitsche völliger Verarmung durchgezogener, staatlicher Terror zugunsten irgendwelcher Menschenmaterialverleiher — gibt diesem Prozesse eine übergeordnete, unmittelbar existentielle Prägung.

Vorab Drei

Ich selbst bin Programmierer. Ich lebe seit fast zwölf Jahren freiwillig als brotloser Künstler und obdachloser Bettler und lehne jede Arbeit für Geld ab. Was ich tue, das tue ich ohne einen Gedanken an den Wahnsinn des Papiers, das die Menschen irre macht. Wenn ich daran denke, wie oft ich damals, als ich noch arbeitete, meinem Gelde hinterherlaufen musste, während mich der „normale“ Kostenapparat eines in der BRD „normalen“ Lebens verzehrte, bin ich froh über diese Entscheidung. Zumindest habe ich seit über zwölf Jahren keinen Tag mehr gehungert, ganz im Gegenteil, richtig fett bin ich geworden an meinem Platz neben der unvermeidlichen Mülltonne im Lande Überfluss.

Meine Mitwelt habe ich abgeschrieben, und sie hat mich abgeschrieben. Mit meinem eigenen Leben habe ich vollständig abgeschlossen. Die Angst meiner Mitmenschen, die mir oft nur noch als wandelnde Angstabwehrfassaden gegenübertreten, erstickt jede Möglichkeit eines gemeinsamen Aufbruchs. Lächelnde Masken suchen den Schrecken zu verbergen, damit man nicht erschrickt; doch der Schrecken spiegelt sich in der Krampfigkeit dieser Grimmasse (und der Verschreiber ist Absicht). Hier ist das Reich der Psyche, nicht des Verstandes; hier ist die eiskalte Hölle selbst, die Verneinung des Lebens, das Kaiserreich der unbarmherzigen Zivilisationsmutter Depression und ihrer kleinen, dummen, hässlichen Schwester Hoffnung inmitten glänzender Kauftempel voller feilgebotener kleiner Heilsversprechen. Ich kann als Vorübergehender mit der mir eigenen Fröhlichkeit zu jedem meiner hoffnungsblinden Zeitgenossen sagen: „Aber immerhin: wir sind doch vom Reichtum umgeben„.

Ich habe die Generation Praktikum kennengelernt, besser, als ich das jemals gewollt hätte. Menschen, dreißig Jahre alt, die ihr ganzes Leben vor lauter fremdbestimmter Mühe niemals Zeit hatten, auch nur einen tieferen Gedanken selbst zu denken, die jahrelang für nichts und ihre Armut gelernt und gearbeitet haben; hoffnungsvoll wie die Schwachsinnigen, die glauben, sie würden für das Unglück unsichtbar, wenn sie nur vorm Unglücke die Äuglein verschließen. Ich bekam und bekomme mit, wie stark sie ihren Sinnesapparat reizen müssen, damit ihnen niemals diese aufdringliche Frage nach dem Sinn aufkommt, die ihren ganzen Lebensentwurf endlich als das entlarven würde, was sie mit ihrem Lebensentwurf und aller damit verbundenen Mühe vermeiden wollten. Und. Ich bekomme mit, was für ein „gutes“ Geschäft das geworden ist.

Es ist ein fressendes Elend, fressend wie Krebs. Wer davon spricht, wird zum Aussätzigen, denn er bedroht diejenige Verdrängung, die eine „Gemeinschaft“ begründen muss, welche auf einem Schlachtfeld voller Überfluss nichts Gemeinsames, nichts die Menschen Verbindendes mehr hat. In der Hand halten sie ein Glas Rum, Marke „Flucht“, neben ihnen steht eine Flasche, hinter der Flasche ein Fass, hinter dem Fass ein ganzes Zuckerrohrfeld.

Die Piratenpartei

In diese kurz skizzierte Situation — die zwar meine ist, von der ich aber aus vielen Begegnungen weiß, dass ich nicht allein in ihr bin, wenn auch kaum jemand zur radikalen Konsequenz der Resignation bereit ist — also, in diese Situation vieler Menschen, trat die Piratenpartei.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ (Hesse). Dem professionellen, abgewichsten, verantwortungs- und skrupellosen, bis zur Obszönität korrupten Politbetrieb aller im Bundestage vertretenen Parteien trat eine junge, erfrischende Bewegung gegenüber, die genau dahin zu packen schien, wo es weh tut. Erneuerung und Transparenz heißen auf russisch übrigens „Perestroika“ und „Glasnost“, zwei Begriffe, die den Älteren noch im Ohre klingen sollten.

Bei den anfänglichen Erfolgen der Piratenpartei ging es nicht und niemals um Programmatik. Kaum ein Wähler in dieser medial entpolitisierten, alles unter TittitainmentAspekten betrachtenden Gesellschaft liest Parteiprogramme. Auch eure Wähler tun dies in ihrer Mehrheit nicht. Es ging auch niemanden wirklich um die „Netzpolitik„. (Dieses Wort ist für mich das Unwort des Internetzeitalters, denn Freiheit ist nicht teilbar — aber die wahlkämpfende Verwendung dieses Unwortes durch die classe politique im kommenden Bundestagswahlkampf wird gerade in gewohnter kalter Professionalität vorbereitet) Das „gefühlte Programm“ der Piraten war Perestroika und Glasnost, und es ist jetzt genau so bitter nötig wie vor einem Jahr, denn in der deutschen Kryptokratie ist nichts durchschaubar oder neu geworden.

(Wie „transparent“ doch dieser Vortragsmillionär Peer Steinbrück ist, der sich als neue Kraft anbiedert! Wofür tritt der ein, dieser offene Kumpan der Ausbeuter mit seinen empfangsbereiten Händen? Für mehr soziale Gerechtigkeit? Wenns nicht alles so bitter wäre, es wäre ein verdammt gutes komisches Theater.)

Das Gerede von Menschen, die im Sinne der Contentindustrie und damit der veröffentlichten Meinung zum Vorstanzen der öffentlichen Meinung für „die Politik“ stehen, dass ein möglichst alldurchwaltendes Programm hermüsse, war in keinem Fall das Gerede von Menschen, denen der Sinn nach Transparenz und Erneuerung stand. Es war das, was in meiner Jugend dieser ehemaligen Alternativpartei „Die Grünen“ schon als vergifteter Bonbon in den Rachen gestoßen wurde; ein scheinbares Ernstnehmen eines neuen Aufbruches, das aber nur den Zweck hatte, den Skandal des in Wahlen auch noch erfolgreichen politischen Konventionsbruches durch Assimilation zu beenden. Was aus den Grünen geworden ist, die sich diesen vergifteten Bonbon so gut schmecken ließen, habe ich schon gesagt: Eine ehemalige Alternativpartei. Diese verbreitet einen bourgeoisen Mief noch abgestandener und lustvoll gewalttätiger als die CDU; ein sumpfiges Stickgas, bei dem keiner mehr an Forderungen wie direkte Demokratie und Stärkung von Bürgerrechten denkt, solange das grüne Benzin aus der Steckdose kommt. Den Atomausstieg hat dann Frau Merkel erledigt, während die engagierten Pazifisten aus Alzheim zusammen mit der SPD unter dem Hartz-IV-, Bordell- und VW-Kanzler Gerhard „Wladimir Putin ist ein lupenreiner Demokrat“ Schröder die Militarisierung der Außenpolitik vorangetrieben haben.

Die Piratenpartei sollte diesen vergifteten Bonbon ausspeien!

Perestroika und Glasnost, also Transparenz und Erneuerung, auf möglichst allen Ebenen dieser Gesellschaft ist (zunächst) das Einzige, was benötigt wird. Es ist erforderlich, um den Prozess der Entpolitisierung der Gesellschaft aufzuhalten und umzukehren.

Keine Personenkulte an neuen Personen, keine Talkshow-Demokratie bei barbarischen Applausstaffagesendungen, die als Polittalkshows verkauft werden, obwohl sie von ihrer Anlage und Absicht her reine und systemerhaltende Entpolitisierung sind. Keine Fortsetzung surrealer Sprechakte, die den Sinn der Zuhörer vernebeln sollen, die wie Ahoj-Brause kurz im Munde aufschäumen, aber eigentlich recht eklig sind, wenn man hinterher seinen Gaumen ehrlich befragt.

Und vor allem: Kein Appell an die kalte und so leicht beeinflussbare Psyche. Sondern. Einsicht und intellektuelle Klarheit im Verfolgen des Weges von Transparenz und Erneuerung auf allen Ebenen. Denn nur das kann dem Ansturm der aufgeblähten Nichtigkeiten und „alternativlosen“ Entscheidungen, hinter denen sich gut verborgene Interessen einer kleinen Minderheit der Bevölkerung verstecken, Widerstand leisten. In der psychischen Manipulation ist der etablierte Apparat stark, er hat siebenundsechszig Jahre nichts anderes getan und seine Perfidie dabei ständig ausgebaut. Dagegen stinkt kein Emporkömmling so schnell an. Das Überwinden dieses Zustandes geht anders!

Der Niedergang der Piratenpartei

Ihr Piraten wart, ohne dass das jemals direkt kommuniziert wurde, die gefühlte Partei der Transparenz und Erneuerung in einer verkrusteten Kryptokratur.

Jetzt seid ihr angekommen. Was man als Außenstehender von der Piratenpartei mitbekommt, ist ein lächerliches Gerangel um Pöstchen; eine offene Bühne für miese Schauspieler; ein peinliches Theater im Versuch, die Strukturen dessen anzunehmen, was zu überwinden ist; ein selbstreferenzielles Karussell der Peinlichkeiten — oder kurz: Eine Sichtbarkeit der Zustände in einer „politischen“ Parallelwelt, von denen jeder Wache insgeheim weiß, dass sie in der Parallelwelt der CDUSPDCSUFDPGRÜNETC in genau gleicher Weise im Verborgenen ablaufen.

Ich — und das bin nicht nur ich, der das so wahrnimmt, es sind auch andere Menschen, mit denen ich täglich spreche, wenn es auch nicht jeder so deutlich formuliert, wie ich es jetzt tue — ich warte nur noch darauf, dass ihr euch eine professionelle Reklameabteilung (also dafür bezahlte, gewerbsmäßige Lügner) haltet, die durch eine künstliche Außendarstellung dafür sorgen soll, dass das alles nicht mehr in der Öffentlichkeit und vor den Kameras und Tastaturen des psychischen Bordells der Journaille sichtbar wird. Dann seid ihr wirklich schlussendlich das geworden, was keiner mehr wollte, der sich euretwegen einmal hoffnungsvoll in ein Wahllokal geschleppt hat, weil es zur Abwechslung einmal eine scheinbare Alternative in der gräulichen Alternativlosigkeit gab; eine Alternative, für die man zur Freude der Angst. Nicht. Zum Revolutionär werden musste.

Für die Piratenpartei ist das freilich das Ende, weil es das Ende des kurzen Frühlings von Transparenz und Erneuerung ist. Was bleibt, ist ein Name, der genau so hohl und mit beliebigen Inhalten füllbar ist wie jeder andere Markenname. Und vielleicht eine Wählerschaft von einem bis zwei Prozent bundesweit, Menschen, die „Netzpolitik“ wichtig finden, weil sie ein Telefon zum Streicheln haben, das sie mit Gefühl 2.0 nutzen, und weil sie darüber frei und billig „Content“ konsumieren wollen, um nicht diese geistlose Leere an dem Ort fühlen zu müssen, an dem eigentlich sie selbst sein sollten.

Die Wahlplakate des niedersächsischen Landesverbandes mit ihren offenen Anleihen an die Nichts sagende Werbung für Markenfetische waren da schon ein unfreiwillig passender Vorgeschmack auf das Kommende. Eine Reklamefirma wird ergänzend zu den üblichen bedeutungsschwer klingenden und bedeutungslos seienden Claims noch Personen auf Plakaten empfehlen, denen man schön mit Photoshop jene Unvollkommenheiten wegradiert, welche die wahrgenommene Hülle eines Menschen zur Person machen, zur persönlichen Person: sterblich, schwach, ausgeliefert und verletzlich wie ein Mensch. Denn das. Ist in der dann verkauften Fassade schlecht fürs Geschäft im eiskalten Reich der Psyche.

Drei Fragen

Ich sagte ja schon eingangs, dass ich etwas in die Breite gehen muss. Drei Fragen waren formuliert, die man kurz beantworten könnte, aber wenn ich das ohne weitere Erläuterung getan hätte, wären meine Antworten wertlos und patzig geworden.

Warum ich nicht die Piraten gewählt habe?

  1. Ich bin überzeugter Nichtwähler. Und ich muss eingestehen, dass mich die Piraten vor einem Jahr bei den Kommunalwahlen wirklich etwas schwach in meiner Überzeugung gemacht haben.
  2. Was die Piraten für mich immerhin so wählbar gemacht hat, dass ich in meiner Überzeugung schwach wurde, ist zerstört. Die Piraten treten nicht mehr mit dem „gefühlten Programm“ der Transparenz und Erneuerung auf, sondern wirken wie ein Wahlverein unter vielen; wie ein kollektives Vehikel unerfreulicher Zeitgenossen, das Menschen zu ihrem eigenen Vorteil in Herrschaftspositionen setzen soll. Damit haben sie den einzigen Vorzug, eine Alternative zum bestehenden politischen Betrieb zu sein, verloren. Geblieben ist ihnen der Nachteil, eine politische Partei zu sein, die nicht eine andere Gesellschaft anstrebt, sondern die bestehende zu erhalten sucht — zur Not mit Gewalt, denn jede durchgesetzte Politik ist staatlich monopolisierte Gewalt.
  3. Überdem hat die Piratenpartei mir — der ich einen wichtigen Teil meines Lebens „im Internet“ verbringe — nicht einen einzigen Grund genannt, warum ich annehmen sollte, dass sie meine persönlichen Interessen vertrete. Statt einem konstanten Finger, der auf die schmerzhaften Stellen dieser verrottenden Gesellschaft deutet, sehe ich Finger, die in unguter Verliebtheit über blitze geile Gadgets streicheln.

Warum ich bei der Bundestagswahl nicht die Piraten wählen werde?

  1. Ich bin überzeugter Nichtwähler. Und ich bin in meiner Überzeugung sogar noch bestärkt worden, weil ich nun weiß, dass es gut ist, dass ich bei der letzten Gelegenheit nicht in einer kindischen Begeisterung meiner kurzen Schwäche nachgegeben habe. Zu den welkgewordenen Grünen gesellt sich ein Wrack am Meeresgrunde. Veränderung geht anders. Transparenz und Erneuerung gehen auch anders.
  2. Was die Piraten für mich vollends unwählbar macht, ist, dass sie die Strukturen dessen annehmen, was meiner Meinung nach zu überwinden ist.
  3. Überdem nennt die Piratenpartei mir — der ich einen großen Teil meiner Lebenszeit über das Internet kommuniziere und distanziert, aber doch keineswegs desinteressiert die Entwicklung der Piratenpartei verfolge — nicht einen einzigen Grund, warum ich annehmen sollte, dass sie meine persönlichen Interessen vertritt. Und zwar. Nicht einmal in Bezug auf das Internet. Dass das Internet in der heutigen Form in ein Kommerznetz mit deutlich gesenkter und gelenkter „Partizipation“ umgewandelt wird, gehört zu den Fakten meines Daseins, mit denen ich mich widerwillig abfinde. Ich schaue wenigstens — im Gegensatz zu denen, die die Fäuletons in verdummender Absicht digital natives nennen, weil das für die so Bezeichneten besser als ein wahres „technisch analphabetische Melkkühe der Gagdet-Verkäufer“ klingt — auf eine hübschere Zeit des Internet zurück, die für mein Leben große Bedeutung hatte. Dass es ausgerechnet für Mitglieder der Piratenpartei geradezu typisch ist, verrammelte Enteignungscomputer mit Apfellogo zu streicheln (und leider ohne erwachendes Bewusstsein mit dem Wort vom „Jailbreak“ zu sagen, dass es sich bei diesen Geräten um technische Gefängnisse handelt); Webdienste zu nutzen, die aus der Anreicherung der zwischenmenschlichen Kommunikation mit Reklame ein Businessmodell machen und die größtenteils unbeleckt von jedem technischen Verständnis sind (den kleinen anderen Teil der Mitglieder der Piratenpartei durfte ich auch teilweise kennenlernen, und ich habe ihn nicht vergessen); zeigt mir, dass der Zerstörung des Internet auch durch die Piratenpartei nichts entgegengesetzt werden wird. Ganz im Gegenteil…

Was müsste die Piratenpartei ändern?

  1. Ein sofortiges und kompromissloses Beenden des Ankuschelns an entpolitisierende journalistische Deutungsschemata der „Politik“; ein sofortiger Abbruch der Bemühungen, „politikfähig“ im Sinne von ARD, ZDF, RTL, Burda, Bertelsmann und Springer zu sein. Jede von der Journaille aufkommende Anfeindung — und diese wird im Erfolgsfall zum Fäkaliensturm, gegen den alles Getwittere ein laues Lüftchen ist — aufnehmen und zurückgeben. Die Piratenpartei steht zum Beispiel dank der ganz besonderen medialen Aufmerksamkeit im Rufe, ein Ort zu sein, an den Neonazis und Rassisten leicht Fuß fassen können, und sie hat darauf schon auf die falschste denkbare Weise reagiert, nämlich mit einem dieser surrealen politischen Sprechakte, der die Piratenpartei zum Ort der Toleranz und Gleichwertigkeit aller Menschen definierte, als ob sich dadurch wirklich etwas änderte. Die in meinen Augen richtige Reaktion darauf wäre gewesen, deutlich darauf zu verweisen, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ein gefestigtes „rechtsradikales“ Weltbild haben und die an sich sehr nahe liegende Frage aufzuwerfen, wie es eigentlich in einer „Demokratie“ möglich sei, dass dieses in der wahlberechtigten Bevölkerung so verbreitete weltanschauliche Deutungsschema keinerlei parlamentarische Relevanz in einer Partei erhält. Dies gewürzt um den Hinweis auf einige gut gelittene besonders bräunliche Gestalten im etablierten Politbetrieb und einem offenen — das meint immer auch: ergebnis-offenen — Umgang mit diesem Problem innerhalb der eigenen Partei. (Und ja: Es ist ein Problem, verdammt noch mal! Und nein: Dieses Problem verschwindet nicht, wenn man wegschaut.) Es ist ja nicht so, dass sich jemand hinsetzt und sich selbst bewusst sagt: „Ich will jetzt ein doofer und böser Rassist werden, der eine gewalttätige und autoritäre Regierung befürwortet„, sondern zu dieser Entwicklung kommt es in einer individuellen Reaktion auf einen oft bedrückenden gesellschaftlichen Kontext, der verstanden werden muss, wenn man etwas mehr dagegen tun will als Verdrängen. Politische Heuchelei gibt es schon genug. Aber wie gesagt, die Reaktion der Journaille wird zum stinkenden Sturm werden.
  2. Eine unerbittliche, immer sichtbare und deutlich kommunizierte Opposition zu dem, was man irreführend als „Neoliberalismus“ bezeichnet. Es ist weder „neu“, noch ist es „liberal“, wenn unter der Beleidigung des erstrebenswerten Wertes des Liberalismus Bedingungen geschaffen werden, unter denen sich eine kleine Minderheit hemmungs- und verantwortungslos auf Kosten der Allgemeinheit bereichern kann. Es ist vielmehr eine Wiederkehr des alten Feudalismus, die mit diesem irreführenden Wort gemeint ist. Zu dieser Opposition gehört, damit sie konstruktiv und erfolgversprechend wird, ein klares Verständnis davon, was ein Staat mit seinen Strukturen leisten muss und was er nicht zu leisten versuchen sollte, wenn das Wort „Freiheit“ eine über Sonntagsreden hinausreichende Bedeutung behalten soll. Der überpersonale und damit un-persönliche Staat regelt „die gemeinsame Sache“ der Menschen, wozu selbstverständlich auch die Sicherung der Befriedigung von menschlichen Grundbedürfnissen gehört (Verkehrswege, Trinkwasser, Elektrizität, Nahverkehr, unbestreitbares materielles Existenzrecht eines jeden Menschen, Wohnen, vielleicht auch der Internetzugang), aber natürlich auch die Abwendung von Tätigkeiten, die für die Gemeinschaft schädlich sind (durch Polizeien, Rechtswesen und damit verbundene Einrichtungen). Der Staat hat sich in dieser Interessenabwägung aus dem Privatleben der Menschen so weit wie nur irgend möglich herauszuhalten. (Meiner Meinung nach gehört auch Drogenbenutzung zum privaten Bereich der Lebensgestaltung eines Menschen und somit mindestens im Falle minder giftiger Rauschmittel entkriminalisiert; ebenso hat der würdevolle selbstbestimmte Tod ein verdammtes, niemals in Frage gestelltes Menschenrecht ebenso wie das selbstbestimmte Leben zu sein.) Aus dieser Betrachtung ergibt sich der Forderungskatalog fast von allein; zum Beispiel ist es falsch, Infrastruktur zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und zur Sicherung gemeinsamer Interessen an gewinnorientierte Unternehmungen zu übertragen und damit die Grundbedürfnisse zu einem Objekt des Handels und der Spekulation zu machen. Zurzeit noch bestehende Entwicklungen in diese Richtung müssen umgekehrt und bis zu ihrer wirksamen Umkehrung in ihren Folgen abgemildert werden. Das Bankwesen bedarf einer besonders engen Regulierung und Kontrolle, da es sich um eine „gefährliche“ Tätigkeit handelt; eventuell ist wegen seiner gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung sogar an eine Verstaatlichung zu denken, auf jeden Fall muss der Zustand beendet werden, dass Profite privatisiert und Verluste quasi „verstaatlicht“ werden.
  3. Eine deutliche strategische Ausrichtung auf die Kommunalpolitik. Es handelt sich bei der Kommunalpolitik um einen Bereich, der in der veröffentlichten Meinung nur wenig Ansehen hat, obwohl keine andere Politik so fühlbar in das alltägliche Leben der Menschen hineinragt. Mit einem markanten kommunalpolitischen Schwerpunkt kann Menschen klar gemacht werden, dass die Politik der Piratenpartei — die ich in diesem Kontext vor allem als Transparenz und Erneuerung verstanden wissen möchte — mehr ist als „kostenloses WLAN für alle“. Es ist zum Beispiel faszinierend und höchst ärgerlich, wie viele Baustellen hier in Hannover Ende Oktober, im November und sogar noch im Dezember aufgemacht werden, nur, damit Budgets ausgeschöpft werden und Budgetkürzungen für das nächste Jahr vermieden werden. Hier führt die gegenwärtige kommunale Verwaltungspraxis zu hirnloser Verschwendung von begrenzten Mitteln. In solchen Bereichen kommunalpolitisch aufzutreten und für Transparenz und Erneuerung zu werben und diese dann auch so weit wie möglich herbeizuführen, führt zu „fühlbarer“ Politik, zu einer wegen der unmittelbaren Betroffenheit auch zum Mitwirken einladenden Erfahrung, die dem gefühlten Ausgeliefertsein eines großen Teiles der Menschen etwas entgegensetzt. Dabei würde auch dem einen oder anderen klar werden, dass die Piratenpartei — anders, als es der Betrieb der Contentindustrie gern darstellt, um mit dem tückischen Blei des Druckers ein Deutungsschema in die Köpfe zu prägen — keine „Kinderpartei“ ist. Diese strategische Ausrichtung ist zwar mit vielen Mühen und Kämpfen gegen Windmühlenflügel verbunden (allein die Seilschaften hier in Hannover…), denen nur wenig überregionaler Ruhm gegenübersteht, aber sie schafft die Grundlage für ein allgemeines Verständnis, warum ein anderer politischer Stil sein muss, warum es keine Alternative zu Transparenz und Erneuerung gibt. Zur kommunalpolitischen Ausrichtung gehört auch die Dokumentation derartiger Themen im Internet, wie es gerade die Berliner Piratenpartei mit ihrer Website zum „Fluchhafen“ recht interessant hinbekommt. (Allein diese Website muss viel deutlicher kommunuziert werden, und zwar zusammen mit der bohrenden Frage, warum das eigentlich sonst niemand tut; weder die Stadt Berlin noch eine andere im Untersuchungsausschuss vertretene Fraktion.)

Der Nachtwächter