Herr Bundespräsident,

sie lesen hier gewiss nicht mit. Aber ich lese hin und wieder mit, was sie von sich geben und über den gewaltigen Verstärker einer sie unentwegt nachdruckenden Contentindustrie mit Nachdruck aufladen lassen. Zum Beispiel ihre Frage nach dem Einkaufsverhalten der von ihnen so lächerlich repräsentierten Menschen, die sie heute morgen stellten, und zwar vor Zuhörern, deren Bedürfnis nach billiger Kleidung nicht so ausgeprägt sein dürfte wie bei Menschen, die wirklich rechnen müssen:

[…] wie lange greifen Europäer noch zur Jeans für zehn Euro, obwohl sie wissen, dass die Allerärmsten in Asien oder Lateinamerika mit ihrer Gesundheit oder ihrer Menschenwürde den Preis dafür zahlen, dass wir so billig einkaufen können?

Gerne möchte ich ihnen, Herr Bundespräsident, bei allem *kicher* Respekt dazu verhelfen, selbst eine Antwort auf diese ihre Frage zu finden. Meine Hilfestellung für ihren Intellekt besteht in zwei Teilen, nämlich…

  1. …dem Hinweis, dass auch die Jeans für vierzig, neunzig, hundertdreißig oder hundertneunundneunzig Euro in aller Regel von den Allerärmsten in Asien und Lateinamerika unter Beschädigung ihrer Gesundheit und Menschenwürde hergestellt wird, weil es einfach billiger ist und damit den Profit erhöht; und
  2. …dem Hinweis, dass die Preisunterschiede für Kleidung in einem weiten Preisbereich nur noch im geringen Maße auf qualitativen Unterschieden beruhen, sondern vielmehr auf einen künstlich-psychologisch geschaffenen „Wertempfinden“, das an den mit allgegenwärtiger Reklame aufgerichteten, irrational-wahnhaften Fetisch der „Marke“ gekoppelt ist.

Wenn sich Menschen bei der Auswahl von Kleidung eines gewissen Preissegmentes — das übrigens nicht der freien Wahl unterliegt, sondern durch individuelle Beschränkung der verfügbaren Mittel und oft sogar Armut erzwungen wird — angesichts der im Unrecht ihrer Herstellung und in ihrer qualitativen Minderwertigkeit nahezu gleichwertiger „Alternativen“ für das preisgünstigste Produkt entscheiden, ohne sich darin von surrealen Sprechakten von fauler schleimig-pfäffischer Gewissenszauberei irrational manipulieren zu lassen, dann ist das ein Zeichen von… ja, ist es denn zu fassen… Intelligenz.

Immer wieder hilfsbereit, Herr Bundespräsident!

Ihr
Nachtwächter