Die Szene: Eine spartanisch eingerichtete Arztpraxis mit einem sehr aufgeräumten Schreibtisch, zwei Stühlen, einem kleinen Tisch mit einer offenbar handgeformten Steingut-Vase darauf, einem großen schwarzen Sessel und einer zweckmäßigen schwarzen Liege. In einer Ecke steht eine völlig unpassende Benjaminfeige, auf der Fensterbank Kakteen. Zwei Darsteller: Der Arzt sitzt bequem im Sessel und macht sich mit wichtiger Geste Notizen, der Patient liegt auf der Liege. Die beiden führen ein Gespräch, es handelt sich offenbar um eine Therapiesituation, die erst vor wenigen Minuten begonnen hat. Der Patient sieht ein wenig verwahrlost aus, spricht mit leichtem niederdeutschem Akzent und ist offenbar ungebildet.

Arzt: So, fangen Sie bitte noch einmal in aller Ruhe von vorne an.

Patient: (mit zitternder Stimme) Wissen sie, es sind diese Stimmen, die ich immer höre…

Arzt: (unterbricht mit ruhigem Ton) Sie hören also Stimmen, wenn niemand da ist? Und das beunruhigt und verängstigt Sie? Das kann ich verstehen.

Patient: (setzt mit zitternder Stimme fort, in den Einwurf des Arztes hinein, muss dabei um Fassung ringen) …diese Stimmen vonnen ganzen Experten, die zu mir sprechen. Diese Männer, die echt was drauf haben müssen, das wärn ja sonst nicht Experten geworden.

Arzt: (unterbricht etwas energischer) So kommen wir nicht weiter. Sagen Sie mir doch bitte, wann das angefangen hat mit den Stimmen!

Patient: (versucht verzweifelt, sich zu fassen) Das war vor ’n Jahr, nachdem ich arbeitslos geworden bin. Da kamen alle diese Stimmen und sagten mir, was ich tun soll. (verfällt in Gestammel) Diese Stimmen die fordern diese Stimmen die da immer sprechen Stimmen keine Ruhe kennen’se keine Ruhe diese Stimmen…

Arzt: (energisch) Bitte eins nach dem anderen! Wie klingen die Stimmen? Ist es ein Durcheinander, oder hören Sie die Stimmen ganz deutlich?

Patient: (plötzlich klar geworden) Ja. Genau so deutlich wie ihre Stimme jetzt.

Arzt: Das ist ungewöhnlich, bei den meisten Menschen mit ihrem Leiden sind die Stimmen durcheinander und schwierig zu verstehen. Wann hören Sie denn ihre Stimmen?

Patient: (immer noch klar) Immer, wenn ich die Glotze anmache. (wird bei der Erinnerung wieder wirrer) Dann höre ich sie alle, die Experten und sie sagen mir, dass ich mehr vertrauen soll. Und immer wieder sagen se das, immer wieder wie ’ne Folter! (wird lauter) Und mach‘ ich d’e Glotze aus, dann schreits mich aus ’n Schlagzeilen von’en Zeitungen an. (schreit) VERTRAUEN SOLL ICH! VERTRAUEN! (befindet sich jetzt in einem Zwischenzustand aus Lachanfall und Weinkrampf, wird dabei immer lauter und wirrer, während er auf der Liege halb aufgerichtet heftig gestikuliert) VERTRAUEN! VERTRAUEN! VER-TRAU-EN! VERSTEH’N SIE? VER TRAU EN SOLL ICH VER TRAU EN! MEHR UND MEHR VER TRAU EN! VER… (plötzliches Verstummen, zusammensacken, leichtes Wimmern)

Arzt: (wartet, bis das Wimmern etwas schwächer wird) Entschuldigen sie, ich hatte sie zunächst falsch verstanden und glaubte, sie seien psychotisch. Dafür, dass sie Stimmen hören, wenn sie einen Fernseher anmachen, brauchen sie wirklich keinen Therapeuten und keinen Psychiater, …

Patient: (leise) Wirklich nicht?

Arzt: …das ist ein ganz normaler Vorgang. Die Stimmen sind Bestandteil des ausgestrahlten Programmes.

Patient: (leise) Ich bin also nicht krank?

Arzt: Nein! Sie sind nicht krank.

(Kurzes Schweigen, bevor der Patient wieder das Wort ergreift)

Patient: (offenbar ausgetobt, viel klarer) Aber die Stimmen sagen immer so’n komisches Zeugs. Das geht so. Die sagen, dass wir Arbeitslose haben, weil’s der Wirtschaft schlecht geht. Und der Wirtschaft geht’s schlecht, weil nix mehr gekauft wird. Und dann sagen se, die ganzen studierten Experten, dass die Leute nix mehr kaufen, weil sie nicht genug Vertrauen haben und deshalb ihr Geld nicht ausgeben…

Arzt: (unterbricht leise) Ja, das höre ich auch jeden Tag. Und?

Patient: Wissen se, ich will nicht mehr arbeitslos sein. Mir fällt die Decke auf’m Kopp, ich weiß nix mit mir anzufangen. Und dann versuche ich das mit dem Vertrauen, so wie se’s immer sagen, die ganzen studierten Leute aus’er Politik und die ganzen Experten… (wird zum Ende stockend)

Arzt: (unterbricht) Ja, das ist doch gut. Und?

Patient: Und dann will ich endlich vertrauen. Die fordern mich ja immer dazu auf. Und dann will ich voller Vertrauen was kaufen, aber ich habe kein Geld. (kurze Pause) Verstehen se, warum ich glaube dass ich krank bin? Die reden, als hätte ich überall in meiner Bude Geld versteckt. Ich habe meine ganze Bude auf dem Kopf gestellt. Ausser ein paar alten Pfennigen und Groschen und acht Cent habe ich nix gefunden. (kurze Pause) Und dann hab ich geglaubt, dass ich mein Geld vielleicht im Keller versteckt hab, und hab das erste Mal seit Jahren meinen ganzen Keller gründlich aufgeräumt. Das glauben se nicht, was ich da alles gefunden hab: Fotos von meiner Ex, alte Urlaubsfotos und leuter Zeugs von dem ich gar nicht mehr wusste, das ich’s noch habe. Da hab‘ ich gedacht, das mit dem versteckten Geld könnte ich auch vergessen haben, und da hab‘ ich aber ganz genau gesucht. Was glauben se, was da mein Nachbar geglotzt hat, als er mich dabei gesehen hat. Alles hab ich durchwühlt. Und kein Geld gefunden. (kurze Pause) Und dann hab ich gedacht, die können doch nicht alle irren, die Experten, die sind doch nicht blöd. Und dann hörte ich wieder diese Stimmen, und die sagten, dass die Verbraucher endlich ihre Kaufzurückhaltung aufgeben müssen und wieder vertrauen müssen. Verstehen se. Das höre ich jetzt jeden Tag. Und dann hab ich versucht, voller Vertrauen, aber ohne Geld einzukaufen, und dann haben se mich verhaftet. Und als ich das alles auf’er Wache erzählt hab, da haben se mir gesagt, dass ich dringend zum Arzt gehen soll. (kurze Pause) Die Experten können sich doch nicht alle irren, diese studierten Leute. Ich weiß nicht mehr weiter. Bitte! Helfen Sie mir!

Arzt: Aber ich weiß nicht, was ich für sie tun soll.

Patient: Haben se keine Pille, die mir helfen kann? Dass ich aus dieser Sackgasse rauskomme? Dass ich wieder vertrauen kann?

Arzt: Seit etwa 10 Jahren gibt es ein wirksames Medikament gegen Vertrauensmangel, aber es ist immer noch in der klinischen Testphase.

Patient: Können se das nicht an mir testen? Was ist das für ein Medikament?

Arzt: Es handelt sich um das neue Medikament Jesulin, ein wahres Wundermittel für die Psychatrie. Es wurde damals von einer Forschergruppe entwickelt, die sich lange mit den neurochemischen Auswirkungen tiefer Religiosität beschäftigt hat. Wenn jemand tief gläubig ist, hat das ja recht positive Auswirkungen auf die gesamte psychische Tätigkeit des Menschen — sie sind bestimmt auch schon einmal jemanden begegnet, dessen Leben von einer tiefen Zufriedenheit getragen zu sein schien. Und diesen Zustand können wir jetzt mit Jesulin erzeugen. Menschen, die jeden Morgen und jeden Abend eine Tablette einnehmen, leben schon am zweiten Tag in der beruhigenden und glückseligen Gewissheit, dass sich die gesamte Welt in der Hand Gottes befindet und dass sich deshalb ganz von allein alles wieder richten wird.

Patient: Aber ich glaube nicht an Gott. Funktioniert das trotzdem?

Arzt: Das war eines der erstaunlichsten Resultate der Jesulin-Forschung. Das Medikament wirkt auch bei harten, überzeugten Atheisten, es führt bei diesen Menschen nur eben zu atheistischen Bewusstseinsinhalten, die sich aber mit der gleichen religiösen Hartnäckigkeit als vorbewusste Grundlage des Denkens durch die gesamte Persönlichkeit ziehen. Diese Menschen glauben dann mit unerschütterlicher Überzeugung an die Kräfte des freien Marktes und — als besonders seltsames Bild — an eine so genannte „unsichtbare Hand“, die vom ungebremsten individuellen Egoismus gesteuert wird und dabei doch immer nur das Beste für die gesamte Gesellschaft bewirken wird. Die davon ausgehende Gewissheit, Selbstzufriedenheit und Beruhigung ist nicht von der religiöser Menschen zu unterscheiden.

Patient: Das klingt gut, genau das brauche ich. Kann ich in irgendeiner Klinik in ein Testprogramm für dieses Jesulin kommen?

Arzt: Nein, das geht nicht, die Jesulin-Testprogramme haben seit zehn Jahren über einen Mangel an Freiwilligen nicht zu klagen. Und die Wartelisten sind riesig.

Patient: Was sind denn das so für Leute, an denen das Zeug getestet wird.

Arzt: Politiker und Wirtschaftswissenschaftler.

(Vorhang fällt)