Der Fühlende und Denkende verhält sich anders als der Stumpfe und von vorgefassten Meinungen Verblendete. Er kann hassen, aber er sucht danach, nicht vor Hass blind zu werden, sondern die Menschen, wo sie ihm in Menschlichkeit gegenüber treten, in ihrer Bedingtheit zu verstehen. Manchmal gelingt es ihm, öfter gelingt es nicht — denn es ist nur mit jenen Menschen Frieden möglich, die den Frieden schätzen.

Das gilt ihm auch für religiöse Fundamentalisten, derer es ja in kalten, armen und unsicheren Zeiten stets viele gibt. Der Fühlende und Denkende sieht das Infantile in der Haltung, er weiß um die trotzige Uneinsichtigkeit eines Kindes in der körperlichen Packung eines Erwachsenen, und er kann diesen jeder menschlichen Möglichkeit entgegen gerichteten Trotz wirklich hassen, weil er eine unnütze, öde Sackgasse ist. Er bleibt dennoch zunächst freundlich und zart im Humor, und er verweigert sich nur darin, sich mit Angst und affektmächtigen Bildern in solche Sackgassen treiben zu lassen. Auch versucht er, nicht einen Moment lang zu vergessen, dass die meisten religiösen Menschen immer noch besser als ihre Religion sind.

Das können jene Kleinkinder in der Larve eines erwachsenen Körpers oft nicht fassen, und sie sind erstaunt über die Kraft des Widerstandes, die ihrem Bemühen entgegen gesetzt wird. Sie wollen jemandem, der sichtlich nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen hat, mit ihrem wohl gesetzten Heimbibelkurs einspinnen; übersehen dabei sogar, dass ihr entwurzeltes Gegenüber gar kein Heim hat. Sie reden gern, und sie sind wirklich tief religiös, was sich deutlich in der unverberglichen Angst im Zittern der Stimme zeigt. Sie müssen ihre Arbeit für jemanden tun, den sie als ihren „Gott“ empfinden, und darüber vergessen sie den Blick auf ihren Bruder, an dem sie sich abarbeiten müssen. Für das genaue Auge sind sie ein guter Beleg für das Gemeinsame von Religion und Zwangsneurose.

Und so spricht man. Auch. Viel aneinander vorbei. In die Flammen, in das Nichts, im Mund verdorrte Worte. Ohne. Bosheit.

Ein Scan aus Erwachet!Zum Abschied ein gedrucktes Heftchen, es heißt „Erwachet!“, und es wird von Menschen überreicht, die dem gesellschaftlichen Prozess mit einer eigentümlichen und provozierend trotzigen Schläfrigkeit gegenüber treten. Ihr „Gott“ ist ein gutes Sedativum. Und. Scheint eine ähnliche psychische Abhängigkeit auszulösen. Von solchem Stoff gibt man gerne weiter, wenn man davon überzeugt ist. Deshalb zum Schluss in auffällig routinierter Geste dieser Griff in die Tasche mit den Heften, von Rotationsmaschinen gestanzter Trost für bescheidene Seelen. Schon die Bilder verraten dem ausgestoßenen Fühlenden und Denkenden, dass er dort an der falschen Stelle wäre. Man hat ein Heim und trägt Krawatte dort, das Kleidungsstück der Tandverkäufer und Betrüger.

Scan aus Erwachet: Kitschige Familie bei der BibellektüreUnd stets ist man gut gelaunt dort! Alle Menschen haben dieses gezwungen wirkende Lachen, dass der Wache sonst nur aus der Reklame kennt und deshalb als genau so künstlich erkennen muss. Eine eigentümliche Mischung aus Kitsch, Comic und spießbürgerlichem Idyll ist es, was die Bilder zur Reklame für einen „Gott“ prägt, der jegliches Bildnis verboten haben soll. Natürlich haben alle diese Images, die dort auf Papier gebannt wurden, eine Heimat, ein Dach über dem Kopf und intakte Familienstrukturen. Die Sanftmütigen und Zerschlagenen neben der unvermeidlichen Mülltonne im Lande Überfluss kommen in diesen Heftchen nicht vor.

Aber trotz allem: Dem Fühlenden und Denkenden sind die Zeugen Jehovas allemal sympathischer als etwa die Mormonen. Diese gehen zwar auch in ihrer zwangskasernierten „Mission“ von Tür zu Tür, aber sie verachten die Bruderschaft des Drecks, das Herz der Straße, da sie der US-amerikanischen Ideologie der Befreiung durch Geldzauber anhängen. Die Zeugen Jehovas sind um vieles besser als die institutionalisierte Verdrängung der wirklichen Zustände, der sie anhängen, da die meisten von ihnen in allem ihrem Streben das menschliche Gegenüber zu erreichen suchen. Und. Dabei auch menschliche Worte sprechen, an denen unter unmenschlichen Zuständen erbärmlicher Mangel besteht. Vermutlich haben keine Anhänger einer andereb Religionsgemeinschaft durch rühriges Klingeln an Haustüren und duldsames Ertragen der allgemeinen Verachtung so viele Selbstmorde verhindert — leider immer im Bestreben, eine dumme und hassenswerte Haltung zu verbreiten.

Fröhliche Grüße an I. und M. — wenn ich auch eurer Meinung nach den zweiten Tod sterben werde. Euer „zweites Leben“ erscheint mir als Gefängnis.