Wenn Menschen völlig irrational und kollektiv ins Verderben laufen, spricht die Umgangssprache davon, dass sie sich „wie die Lemminge“ verhalten. Diese Aussage nimmt Bezug darauf, dass Lemminge zuweilen einen Massenselbstmord begehen würden, indem sie sich bei starker Überbevölkerung auf ihren Wanderungen instinktiv von den Klippen in den Tod stürzen, um ihre Population in einem Rahmen zu halten, der die Art nicht gefährdet.

Das Interessante daran ist, dass Lemminge so etwas niemals tun, und dass dennoch viele Menschen zu glauben scheinen, dass sie es doch täten. Dieser Glaube hat seinen Ursprung im Dokumentarfilm „Abenteuer in der weißen Wildnis“ (englisch: „White Wilderness“) aus dem Jahre 1958 von Walt Disney, der übrigens auch mit dem Oskar für den besten Dokumentarfilm des Jahres ausgezeichnet wurde. Dieser Film war in der Tat ein großes Projekt, er wurde über einen Zeitraum von drei Jahren in der arktischen Wildnis Kanadas aufgenommen. Offenbar hatte man sich vorgenommen, auch einen solchen „Massenselbstmord“ in „den Kasten“ zu bekommen, aber da er in Alberta gedreht wurde, wo es gar keine Lemminge gibt, erwies sich dieses Unterfangen als nicht durchführbar. Deshalb wurden einige Tiere von den Eskimos gekauft, um mit diesen Tieren und ein paar technischen Tricks und handgreiflichen Manipulationen alle Szenen zu fälschen — einschließlich der Szene, in welcher sich die Lemminge von den Klippen stürzen. Sie gingen nicht in den Tod, die gar nicht lebensmüden Tiere wurden ganz einfach in den Tod geworfen, um das gewünschte Bild zu haben; den Rest der Illusion besorgt eine beeindruckende Perspektive, eine Reihe von geschickten Schnitten und ein Sprecher, der diese Bilder mit sachlicher Stimme und bewegenden Worten kommentiert. So arbeiten eben wahre „Naturfreunde“, wenn sie eine Dokumentation machen! :mrgreen:

Und dies alles nur, um zu Unterhaltungszwecken ein spektakuläres und gut verkäufliches Bild von der „Wirklichkeit“ zu haben, auch, wenn dieses Bild mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Auf diese Weise entstand durch die mentale Massenstanze des populären Kinos ein moderner Mythos, der bis heute tradiert wird, der Sprache und Denken seinen Stempel aufdrückte und sogar seinerzeit recht beliebte Computerspiele hervorbrachte, obwohl sich kaum noch ein Mensch des Ursprunges dieses Mythos bewusst ist.

Wenn Menschen also „wie die Lemminge“ massenhaft in ihren offenbaren Untergang rennen, haben sie darin kein biologisches Vorbild. Dass ein solches, wenig lemminghaftes aber typisch menschliches Verhalten in der gegenwärtigen Zeit häufig davon begleitet wird, dass diese Menschen medial vermittelten „Informationen“ mehr Vertrauen schenken als ihrer eigenen Wahnnehmung und dem Fühlen ihrer eigenen Bedürfnisse, passt auf diesem Hintergrund ganz ausgezeichnet.