„Wenn die Menschen eine völlig unvernünftige, oft sogar wahnsinnige Haltung einnehmen, sich aus irgendwelchen Gründen dauerhaft an einen anderen Menschen zu binden, obwohl es gar nicht funktionieren kann“, sagte der Vorübergehende grinsend, „dann nennen sie das im Spiegel ihrer Sprache eine Vernunftehe. Die Gesellschaft und insbesondere die Politik sind voll von derartiger Vernunft“.
Tag Archive: Vernunft
Es gibt vieles, was die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft übersteigt, und das nicht einzusehen, ist ein Zeichen von Dummheit. Aber niemand sollte sich von solcher Einsicht davon abhalten lassen, das zurückzuweisen, was sogar schon der beschränkten menschlichen Vernunft widerspricht.
Als der Vorübergehende von einem Zeitgenossen gefragt wurde, was er glaube, warum er bei so vielen, untereinander sehr verschiedenen Menschen so beliebt und gerngesehen sei, obwohl er doch so völlig anders als die meisten Menschen lebt, antwortete der Vorübergehende: „Ich suche bei jedem Menschen, mit dem ich es zu tun habe, zunächst das Gemeinsame in unserer Einsicht, Lebenserfahrung und Träumerei, nicht das Trennende — denn das Trennende findet sich von allein und trennt, ohne dass es besonderer Mühe bedürfte. Wer das ganze Leben als Kampf betrachtet, kämpft sein Leben lang mit aller Kraft seiner Psyche einen kalten, verzehrenden und sinnlosen Kampf, hat aber keine Kraft für die not-wendigen Kämpfe gegen die fressende Kälte; wer aber das ganze Leben als intellektuell zu bewältigende Aufgabe betrachtet, hat sein Leben lang erhellende, überraschende und sinnlose Einsichten, die den erforderlichen Zynismus um lichtvollen Humor anreichern. Erträgliche Zivilisation und erfreuliches Miteinander entstehen dort, wo die Psyche geächtet und der Verstand gefördert wird. Und Vernunft zeigt sich im Menschen, der solche Orte sucht und andere Orte meidet, denn der tierhaft-ernste Hordentrieb ist viel zu geistlos, um eine Heimat für fühlende und denkende Menschen zu sein“.
Als sein Zeitgenosse „Lasst uns vernünftig bleiben, auch wenn unsere Gegner es nicht sind“ sagte, antwortete der Vorübergehende etwas lauter als gewohnt: „Nein. Genau das ist der dumme, narzisstische Weg, angetrieben von der süßen Illusion endloser Kräfte, Zeit und Möglichkeiten, auf dem man nichts erreicht und alle seine begrenzte Kraft in einen aussichtslosen Scheinkampf steckt — bis man schließlich erschöpft feststellt, verloren zu haben, obwohl man die besseren Argumente hatte. Wenn du dich mit einem Schwein im Schlamm raufst, wirst du dabei zwei Dinge feststellen: Dass ihr euch beide dabei dreckig macht, es dem Schwein aber gefällt“. Und der Vorübergehende setzte fort: „Wenn jemand unvernünftig ist und dir damit Kraft rauben will, sag es ihm und beantworte auch gern Rückfragen, damit Vernunft einziehen kann! Wenn er dir gegenüber auf seiner Unvernunft beharrt und in seinem Versuch, deine Kraft auszulutschen, nicht nachlässt, bitte ihn freundlich, sachlich und erklärungsbereit, damit aufzuhören! Für sich selbst mag er gern unvernünftig sein, es ist ein Freier Mensch. Und wenn er dann immer noch nicht aufhört, vernichte ihn, so unvernünftig das auch sein mag! Es ist kein Gegner, sondern ein Feind; ein Mensch mit dem kein Frieden möglich ist, weil er keinen Frieden will“.
„Das klingt brutal“, sagte der Zeitgenosse.
„Es ist vernünftig, so lange du dabei vernünftig bleibst„, antwortete der Vorübergehende lächelnd.
Wenn Politik etwas mit Vernunft zu tun hätte, hätten wir keine Politiker im Parlament, sondern vernünftige Mitmenschen
Alle größeren zivilisatorischen Probleme entstehen nur daraus, dass zu viele Menschen die Vernunft lediglich für eine mögliche Herangehensweise unter vielen halten.
Es tut halt so sauwohl, keinen Verstand zu haben, dass die Sterblichen um Erlösung von allen möglichen Nöten lieber bitten, als um Befreiung von der Torheit.
Erasmus von Rotterdam
Logorrhoe — Wie durchfallhaft leicht doch das Reden aus den Mündern der Menschen in der classe politique quillt, seit es von Massenmedien verstärkt und an Millionen Ohren getragen wird, nur um zwischen den Ohren sogleich wieder im endlosen Strom des bullshits vergessen zu werden! Die Qualifikation, die einen Menschen immer wieder in die Medien und damit in die industriell erzeugte Relevanz bringt, besteht im reflexartigen Herauslassen von heißluftgefüllten Sprechblasen zu jedem nur erdenklichen, durch das Tagesgeschehen aktuell gewordenen Thema. Der Umweg der Worte über das Gehirn ist dabei nur störend, weil er den Sprechvorgang verlangsamt und damit jemanden anders den Vortritt lässt, was für die Selbstvermarktung des Sprechenden unerwünscht ist. Die greifbare Verblödung ganzer Völker hat ihre Wurzeln in den unmittelbaren, die Aufmerksamkeit an sich reißenden, lichtschnellen Medien, die auf keiner Seite ihres Apparates eine Anstrengung des Verstandes und eine Besinnlichkeit der Betrachtung befördern. Der körperlich eher schwächliche Mensch hat es mit den Möglichkeiten seines Gehirnes und der sozialen Kommunikation weit gebracht, wie eine Betrachtung seines zivilisatorischen Standes zeigt — aber seit dem Siegeszug von Radio und Fernsehen geht es rasendschnell bergab.
Magno cum clamore — Im Jahre 2000 erhielten David Dunning und Justin Kreuger den Ig Nobelpreis für Psychologie auf ihre Arbeit mit dem bemerkenswerten Titel „Ungebildet und ahnungslos davon: Wie Schwierigkeiten in der Wahrnehmung der eigenen Inkompetenz zu aufgeblähter Selbstbewertung führen„. Dieser Titel könnte das inoffizielle Motto aller Nachrichtensendungen und Talkshows sein, um jene Menschen zu charakterisieren, deren Reden dort an die Ohren eines Millionenpublikums getragen wird.
Ver-Halten — Die gegenwärtige psychologische Mode, das gesamte mentale Potenzial eines Menschen als eine unerklärliche black box zu ignorieren und damit zu missachten und sich stattdessen forschend darauf zu konzentrieren, welche Formen der Reizung zu welchen Reaktionen führen, sie spiegelt wider, dass ein großer Anteil der Menschen die Möglichkeiten des Verstandes nicht dazu nutzt, um sich über die eigene Situation und die eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein und aus diesem Bewusstsein zielvoll und verantwortlich zu handeln, sondern sich reflexartig, konditionierbar und damit leicht manipulierbar verhält. Die bloße Existenz eines Verstandes stellt noch lange keine Vernunft sicher.
Babels Türme — Die kollektive Religion ist ein vortrefflicher Zement für die individuelle Angst, schnell härtend und nur mit großer Mühe zu zerstören. Ganze Staaten wurden und werden damit aufgebaut, wobei eine gottlose Formulierung dem phobischen Wahn nicht seinen religiösen Charakter nimmt. Um zu erkennen, was die Religion ist, die einen Staat zusammen hält, reicht es, sich anzuschauen, welche irrationalen Grundlagen des Miteinanders durch besondere Tabus und Denkverweigerungen geschützt werden, mindestens durch soziale Gewalt, oft aber auch durch erzwungenes Wohlverhalten durch die Androhung des Todes, durch den kalten Entzug des Lebensnotwendigen oder durch das nur unwesentlich mildere Gefängnis.
Sklaverei — Und der Nachtwächter sagte: Aber natürlich gibt es Arbeit, es gibt jede Menge davon. Geh mit geöffneten Augen durch die Straßen und du siehst überall Unerledigtes, das zum Schaden einzelner Menschen oder der ganzen Gesellschaft liegen bleibt! Das Problem ist nicht ein Mangel an Arbeit, sondern die Tatsache, dass niemand mehr für Arbeit bezahlen will — und die logische Fortsetzung dieses auf Geiz und Gier begründeten gesellschaftlichen Prozesses ist die Wiedereinführung der Sklaverei. Dass die Kochs dieser Welt dir ad nauseam am eigentlichen Problem vorbeireden, belegt nur, dass diese Wiedereinführung der Sklaverei in gewissen Kreisen der classe politique eine längst beschlossene Sache ist.
Rest — Was bleibt von einem Menschen, nachdem seine Angst von ihm genommen wurde? Ein heiteres, angstfreies und damit freies Wesen, das nicht mehr beherrschbar ist; ein Fühlender und Denkender, dessen Einsicht darüber entscheidet, bei welchen Dingen und Tätigkeiten er mitmacht. Dieser „Rest“, dieser eigentliche Mensch ist der Grund, weshalb mit so viel Aufwand dafür Sorge getragen wird, dass allerlei Ängste in den Menschen geweckt werden. Ängstliche Menschen sind leichter regierbare Menschen.
Vom Tun — Was „man“ tun kann, hast du mich gefragt? Und hast nicht dich gefragt, was du tun kannst, gerade dort, wo du wirkst und atmest? Diese Frage kenn ich wohl, sie sucht niemals eine Antwort, sie sucht nur den Grund zu fortgesetztem Schweigen. Die Frage nach dem, was „man“ tun kann, ist die Haltung der verschränkten Hände am brennenden Haus. Geh zur modernen Version der drei Affen; richte deine Augen fest auf das Geflacker des Fernsehers, steck dir die Stöpsel deines iPod in die Ohren und gib mit deinem Mund das wieder, was dir künstlichen Ersatzwelten der Contentindustrie in die Ohren und in die Augen brüllen! Die Dummheit ist dein Recht. Aber. Raub mir nicht meine Zeit! Denn ich weiß, was ich zu tun habe; dort, wo die vorübergehende Trübsal meines heiteren Lebens abläuft.
In ihrem unentwegten Streben nach einer möglichst totalen „Marktbefreiung“ erreichen immer mehr Vertreter der classe politique den Zustand der totalen Merkbefreiung.
Zeitgenosse: „Findest du nicht, dass die Religion einen Wert hat, dass sie immerhin Menschen dazu bringt, Gutes zu tun, für wohltätige Zwecke zu spenden, die Welt erträglicher zu machen?“
Nachtwächter: „Nein. Ganz im Gegenteil. Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Menschen, der aus eigener Einsicht das so genannte ‚Gute‘ tut und einem anderen Menschen, der es tut, um einem Gotte zu gefallen oder sich einen spirituellen Vorteil mit seinem Tun zu verschaffen, denn bevorzuge ich den Menschen mit der eigenen Einsicht. Und wenn ich die Wahl habe zwischen einem Menschen, der aus eigener Einsicht das so genannte ‚Böse‘ tut und einem anderen Menschen, der es tut und Frömmigkeit heuchelt und allerlei Luftschlösser baut, um es als religiöse Gerechtigkeit hinzustellen, denn bevorzuge ich auch beim so genannten ‚Bösen‘ den Menschen mit eigener Einsicht. Religion ist nicht einmal ansatzweise ein Ersatz für Bewusstsein, Selbstreflektion und Verantwortung. Religion ist die bückgeistige Abgabe der eigenen Möglichkeiten an eine Institution, auch um den Preis, dass man damit dümmer und manipulierbarer wird. Es gibt keine Alternative zum eigenen Bewusstsein.“
Viele Menschen hätten wohl sehr viel mehr Verständnis für den „Schutz“ des „geistigen Eigentums“, wenn es sich dabei in der Regel auch um ein „geistreiches Eigentum“ handelte.