Es gibt in der deutschsprachigen Presse und im deutschsprachigen Rundfunk ein Tabuwort, das beinahe niemals von Journalisten in den Mund genommen wird, um Taten damit zu benennen, und zwar das Wort „Rassismus“ oder das davon abgeleitete Adjektiv „rassistisch“. Nachdem die Journalisten jahrelang von „Fremdenfeindlichkeit“ und „fremdenfeindlichen Angriffen“ sprachen, wenn sich einmal nicht der „Antisemitismus“ gegen die verbliebenen Juden in Deutschland richtete, nur, um den tabuisierten Rassismus besser in ihrer Berichterstattung verstecken zu können, gehen sie jetzt dazu über, noch eine ganze Größenordnung irreführender von „Hassverbrechen“ zu sprechen, als ob der Hass das Verbrechen wäre und nicht das Verbrechen. Die Frage, ob es sich dabei um dumme Propaganda oder um einen kindischen Abwehrzauber durch Wegschauen und Verschweigen handelt, ist schwierig zu beantworten.
Tag Archive: Tabu
Vim vi repellere licet
S. ist tot, und niemand kann es fassen. Niemand, das heißt: Niemand von all diesen Menschen, die glaubten, dass sie S. schon deshalb kannten, weil sie in ihrer ständigen Gegenwart waren; solche Menschen wie die Eltern oder der Lebensabschnittsgefährte. Sie hat doch gestern noch mit so ungewohnt klarer Stimme am Telefon gesprochen, mit so einer ungewohnt klaren Stimme.
Und dann hat sie dafür gesorgt, dass sie ein paar Stunden ungestört ist und sich mit ihren gesammelten Tabletten und einer großen Menge Alkohol vergiftet. Tabletten hatte sie viele. Man bekommt sie ja mit flottem Stift verschrieben, wenn die Körpermaschine trotz der blutenden Psyche weiterhin im betrieblichen Produktionsprozesse verwertbar sein soll, und auch, um einen Menschen mit einer solchen Körpermaschine immer wieder einmal ruhig zu stellen, wenn die gewöhnliche Sedierung mit dem Fernsehempfänger nicht ausreicht. Es ist ein gutes Geschäft mit den Tabletten, gerade unter dem gegenwärtig über die Gesellschaft ablaufenden Prozess. Und deshalb hat ein Mensch mit schweren Problemen eben viele Tabletten, vor allem, wenn er mit dem Zielbewusstsein der Erlösung ein wenig sammelt.
Jede Hilfe kam zu spät. Sie wusste genau, wie man sich die erforderliche Ruhe verschafft. Damit. Die Weltschmerztablette auch wirkt.
Ein paar als Rettungssanitäter bezeichnete Barbaren haben sich noch in der ihnen so eigenen Professionalität darum bemüht, mit den üblichen Mitteln die Körpermaschine wieder in Gang zu setzen, obwohl diese Körpermaschine zu einem Menschen gehörte, dem sein Dasein längst zum Ekel geworden war und der dies mit seinem Freitod völlig unübersehbar und unmissverständlich dokumentiert hat. Auch der Defibrillator bekam wieder einmal etwas zu tun. Niemandem hier ist das natürliche Recht auf seinen eigenen Tod gegeben. Genau so wenig. Wie hier irgend jemandem das natürliche Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gegeben wäre. Und dann. Wurde S., die als Lebende nach ihren ganzen Erfahrungen mit dem Wert eines Menschen im BRD-„Gesundheitssystem“ nichts so hasste wie das Innere einer Klinik, noch auf die Trage geschnallt und in die Klinik gefahren, auch das ist ja ein gutes Geschäft. Selbst. Wenn die Körpermaschine, die da an der Notaufnahme abgeliefert wird, schon anfängt, kühl zu werden und Leichenflecken auszubilden. Immerhin konnte die Energie für das Blaulicht und das Martinshorn eingespart werden.
Meine Überraschung war nicht sonderlich groß, als ich heute davon hörte. Ihre Stimme an der Kälte des Telefonapparates war wohl so klar — ich habe sie leider nicht selbst gesprochen und bin auf die zweite Hand angewiesen — weil ihr, S., zu diesem Zeitpunkt völlig klar war, dass sie das Ende ihrer Qualen jetzt selbst in der Hand hatte. Vielleicht war ich so wenig darüber überrascht, weil ich nicht nur mit ihr gesprochen habe, sondern ihr auch zuhörte. Was wirklich. Nicht immer leicht war.
Nun quälen sich die zu Hinterbliebenen gewordenen Menschen mit ihrem Bild von S. und den kognitiven Dissonanzen, und natürlich auch mit sinnlosen Selbstvorwürfen, als ob diese und der Strom von Tränen nicht um Jahrtausende zu spät kämen.
Dabei wird — wie bei jedem Freitod — so vieles verschwiegen und vergessen.
Schon, als sie noch lebte, hat man es gern und schnell vergessen, wie sie als drei- oder vierjährige Zwergin von einem Nachbarn sexuell missbraucht wurde. Wenn man so etwas aus der Erinnerung ausblendet — so bildet sich Mitmensch Mordsspießer das ein — denn hat es niemals stattgefunden. Und die Kinder vergessen ja sowieso, was ihnen geschah, also geschieht es gar nicht. Sie. Wusste es noch. (Zumindest in Andeutungen, die im Gesamtbild aber für mich mehr als deutlich waren.)
Man merkte es ihr so gar nicht an, als sie noch klein war — das sagen jene, die es ihr hätten anmerken müssen. Sicher, sie war ein „schwieriges Kind“ und völlig in sich zurückgezogen, konnte niemandem vertrauen, wirkte oft ein wenig abwesend und war in vielen Dingen auch ein wenig ungeschickt. Deswegen musste sie auch die komplette strukturelle Gewalt des Zwangsschulsystemes der BRD kennenlernen, die gern im Wort von den „Hänseleien“ verniedlicht wird, um den kalten Zynismus noch zu steigern. Aber sowas! Andere Kinder gehen doch auch zur Schule, und drehen nicht so völlig ab…
„Drehen nicht so völlig ab“, wie es bei S. im Alter von 11 Jahren, an der Schwelle zur Hölle der Pubertät, begann. Das In-sich-Zurückziehen nahm Züge einer ausgewachsenen Phobie an. Der Arzt des Dorfes nannte diese Phobie „Schüchternheit“, er ist eben Arzt und wird nicht für gute Dignosen und noch weniger für die Gesundheit der Menschen bezahlt, sondern dafür, dass er die Leistungsfähigkeit der Menschmaschinen erhält. Und das tat er auch bei S., indem er ihr etwas gegen die „Schüchternheit“ verschrieb. Das waren ihre ersten Tabletten. Mit diesen gelang ihr immerhin die weitere Teilnahme am Schulunterricht, und sie saß auch nicht mehr den ganzen Tag weinend in ihrem kleinen Zimmer in dem großen Haus, wenn sie mal wieder von ihren Mitschülern verprügelt und bespuckt wurde.
Die Dosis steigerte sich, früh kam auch schon Alkohol dazu, der gleiche Alkohol, der in den größeren Zimmern des großen Hauses von den größeren Menschen in erheblichen Mengen gesoffen wurde, um die Ödnis des eigenen Lebens nicht so sehr fühlen zu müssen — eine sumpfige Ödnis, in der man nicht mehr miteinander spricht, in der man in stiller Entseelung nebeneinander herlebt und die moderne Dreieinigkeit von Arbeit, Fernsehen und Schlaf ein ganzes Leben formt. Diese Ödnis nennt sich Ehe und Wohlstand. Man kriegt ja nichts geschenkt. Man muss ja zufrieden sein. Und. Es fehlt ja auch eigentlich an nichts.
Und. Alkoholiker sind immer die anderen, und unsere Tochter hat zwar manchmal einen gesoffen, aber sie war keine Alkoholikerin und auch nicht von den Medikamenten abhängig. Dass sie einige Male im Koma lag, kommt vor, wenn man jung ist. Tja, mit dreizehn ist man eben noch jung.
Für einen Abschluss hat es noch gereicht. Die Parallelwelt der Schule, die als verkleinertes Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit dem rückblickenden Menschen beinahe niedlich scheint, lässt sich mit solchen Hilfsmitteln durchaus durchstehen — vor allem, wenn wenigstens ausreichend Geld da ist, um etwas Nachhilfe finanzieren zu können. Denn diese Schulzeit wurde für S. doch durch den einen oder anderen Klinikaufenthalt unterbrochen, und diesen ständigen Rückstand muss man ja irgendwie aufholen. Am Gelde ists jedenfalls nicht gescheitert.
Nach der Schulzeit. Verflüchtigte sich jede Hoffnung auf irgendeine Besserung wie von allein. Die Ausbildung scheiterte. Das bisschen Clique, das S. um sich hatte, beschränkte sich in der sozialen Interaktion auf Einkaufen, Diskobesuche und ausgiebigen Alkoholgebrauch. Probleme hatte man niemals. Die Verdrängung, die S. aus ihrem direkten Umfeld kannte, setzte sich nahtlos außerhalb dieses Umfeldes fort, bis im Laufe der Jahre auch noch dieser kärgliche Trost in vielen Hochzeiten zerstob. Und. Das richtige Schweigen begann, das nur von einigen so genannten Beziehungen unterbrochen wurde, die den Charakter eines Verkehrsunfalles hatten.
Sicher, S.s Fassade sah gut aus, sie war eine attraktive, schlanke Frau mit gutem Geschmack und auch scharfen Gedanken, wenn sie einmal ansprechbar war. Elend macht eben auch klug. Man sah und hörte ihr nicht an, dass sie schon als Kind von einem unbeschreiblichen Selbsthass zerfressen war, dass sie sich nach dem völligen Scheitern jeder Lebensperspektive und jedes Versuches der Selbsttröstung mit regelmäßigem selbstverletzenden Verhalten eine Karthasis verschaffte, die dann im Laufe der Jahre auch fad wurde. Sie trug halt lange Ärmel. Die Fassade ist dort, wo sie herkommt und wo das große Haus steht, wichtig. Über alle Maßen wichtig.
Dorthin, in das große Haus, ging sie immer wieder einmal zurück, wenn sie „abgestürzt“ war und aus der Klinik entlassen wurde, was mit ermüdender Regelmäßigkeit geschah. Und dort, im großen Haus beim Fernseher und der gut gefüllten Hausbar, gaben ihr die jetzt so Überraschten gern und reich ihren Rat, wann immer sie dort war. Sie müsse sich nur zusammenreißen und wieder arbeiten, denn komme sie schon auf andere Gedanken. Die paar Assimilationsarb Sozialarbeiter, die sie in der Klinik kennenlernte, sagten ihr übrigens inhaltlich das gleiche, schlugen aber tendenziell eher ein „Arbeiten“ mit therapeutischem Hintergrund, eine so genannte „Ergotherapie“, vor, diese begleitet von Maßnahmen zum Alkohol- und Medikamentenentzug. Arbeit macht frei.
Niemand glaube, dass S. das alles nicht versucht hat! Für einige Wochen ist die Verdrängung ja aufrecht zu erhalten, aber eben nicht auf Dauer. Der letzte Versuch — oder genauer: das Scheitern des letzten derartigen Versuches — führte S. mit einer so starken Vergiftung in die Klinik, dass sie tagelang im Koma lag und dem Tod gerade so eben von der Schippe gesprungen war.
Sie hatte sich noch nicht einmal so richtig davon erholt, da begann wieder das professionelle Gefasel vom „Arbeiten“ und die familäre Ergänzung vom „Zusammenreißen“ — und der in solch neoliberal nützlicher Stumpfpsychologie mitschwingende Vorwurf, es sei alles ihre Schuld, sie suche sich ihr Elend doch selbst aus.
Nun hat sie ihr Elend selbst beendet. Denn das konnte sie. Gut geplant, schmerzlos und mit einer Zielstrebigkeit, die jeden Gedanken an einen rein appellativ gemeinten Suizid den Boden raubt, trotz des eher unsicheren eingesetzten Mittels.
S. ist tot.
Ihre Seele erfror in der schweigenden Kälte. Und die Schweigenden sind überrascht, betroffen, erschüttert. Damit hätten sie denn doch nicht gerechnet. Damit, dass S. auf die strukturelle Gewalt in ihrem Leben, der sie gar nicht mehr entkommen konnte, reagierte, indem sie sich selbst Gewalt antat und damit ihre Ohn-Macht beendete.
Demnächst wird es eine Todesanzeige für S. geben, in einer kleinen regionalen Zeitung irgendwo auf dem weiten Land des kalten Schweigens. Die Gestaltung und den Text der Anzeige wird jemand übernehmen, der sich dafür bezahlen lässt, und er wird die üblichen Phrasen zu Papier bringen, so etwas wie „Für uns alle unerwartet ist sie in der Blüte ihres Lebens entschlafen“. Wenn er einen ganz lichten Moment hat, schreibt er einfach nur „Sie ist erlöst“. Da sein Geschäft auch ohne lichte Momente läuft, wird er wohl eher keinen lichten Moment haben.
Und dann kommt die Beerdigung. S. war getauft, also wird sich ein Pfaffe hinsetzen und in seinem Notizbuch nachschauen, ob er schon eine wiederverwertbare Ansprache für einen derartigen Todesfall hat. Pfaffen verlassen sich genau so treffsicher auf das schlechte Gedächtnis der Menschen wie Politiker, und sie sind genau so gut wie jene im Belügen der Menschen und im Vermeiden eigener Mühe geübt. Wie sich doch alle Geschäfte aneinander angleichen! Und wie wichtig doch überall die Fassade ist.
Man wird ein Loch graben und einen Sarg dort hineinsenken, wo man hinterher einen Stein auf das Gras stellt und für ein paar grüne Lappen ein paar Blümchen von der Gärtnerei pflanzen und pflegen lässt, damit auch diese Fassade gut aussieht. Auch das. Ist vor allem ein gutes Geschäft. Und die Menschen, die zu Hinterbliebenen geworden sind, werden sich hinstellen und sich gegenseitig versichern, wie völlig unerwartet das alles kam; einige werden sich allerdings schon an der offenen Grube klammheimlich auf den Kuchen, den Kaffee und den in der Speiseröhre so warmen Schnaps freuen. Es ist ja Herbst.
Ich werde diese unpassende Komödie gewiss nicht besuchen, denn mir ist nicht zum Lachen zumute. Ich habe S. nämlich wirklich gemocht.
Und ich weiß. Dass S. mich vollkommen verstehen würde — wie sie generell vieles von meinem Ekel vor dieser Gesellschaft verstand, in der ich weiter mein trübes Dasein fristen muss. Sie. Ist ja jetzt gegangen. Vorgegangen.
Elend. Macht eben klug.
Knapp anderthalb Prozent aller Todesfälle in der BRD sind sicher erkannte, erfolgreiche Suizide, es handelt sich um ungefähr 12.000 Menschen im Jahr. Niemand weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist; wie viele seltsame Unfälle mit tödlichem Ausgang, falsche Dosierungen von Medikamenten, Drogen- und Alkoholexzesse, systematische Unterernährungen und dergleichen mehr in Wirklichkeit in bewusster oder doch wenigstens latenter suizidaler Absicht herbeigeführt wurden. Nur jeder zehnte bis zwanzigste Suizidversuch führt zum Tode, und auch bei den Suizidversuchen ist die Dunkelziffer nicht abzuschätzen. Das kalte Schweigen geht weiter.
Ach ja, wer glaubt, S. identifizieren zu können: Der Anfangsbuchstabe des Namens wurde von mir geändert, und jeden hilfreichen Hinweis aus der ersten Version dieses etwas zu langen Textes habe ich bewusst entfernt.