Élections, piège à cons
Jean-Paul Sartre
Von einem Zeitgenossen mit nur mäßig unterdrücktem Vorwurf gefragt, was ihn eigentlich so radikalisiert habe, antwortete der Vorübergehende: „Es war, als sie das Euro-Bargeld eingeführt haben… oder genauer, als am 2. Januar 2002 nach den üblichen Jahresendfeiern die ersten Geschäfte eröffneten. Da ging ich mit neuen, bunten Banknoten in die vertrauten Geschäfte und wollte etwas Gemüse kaufen, aber da hingen beim Edeka noch die alten Preisschilder mit den alten Zahlen — nur mit einem neuen Währungssymbol. Und diese verdoppelten Preise sollten dann auch so bleiben. Unterdessen erklärten mir alle Presseauswürfe von der Bildzeitung über die Süddeutsche Zeitung bis zur Frankfurter Allgemeinen und alle ihre Kollegen aus Funk und Fernsehen jeden Tag aufs Neue, dass die objektive Teurerung nur eine Wahrnehmungsillusion sei, dass ja gar nichts teurer geworden sei, während mir einfach die Hälfte meines Geldes aus der Tasche gezogen wurde, und wer nicht glauben wollte, was er beim Einkaufen sah, sei wahrnehmungsgestört, ja, beinahe geisteskrank und sehr dumm und leicht manipulierbar. Es brauchte mehrere Wochen, in denen diese völlig offensichtlichen Lügen wie eine chinesische Wasserfolter weitergingen, jeden Tag auf jedem Kanal, unabhängig von irgendwelchen parteipolitischen Präferenzen, bis der Entschluss reif wurde, das alles nicht einen Tag länger als nötig mitzumachen, denn etwas anderes als die Verblödung bei lebendigem Leibe, diese von politisch-journalistischen Komplex vermittelte, extrinsisch verursachte Massendemenz, würde ich immer und überall finden, und wenn ich dafür als Gespenst leben müsste. Ich habe erst damit aufgehört, meine Alkoholsucht mit täglich neuem Stoff zu versorgen, und danach habe ich mit vielen weiteren Dingen aufgehört, bis ich zu dem geworden war, was ich heute bin, und ich habe es nicht einmal als ‚Radikalisierung‘ empfunden, sondern als Selbstschutz“.
Als der Zeitgenosse dann zum Vorübergehenden sagte, dass doch auch ein Geisterfahrer glaube, die anderen seien alle Geisterfahrer, antwortete der Vorübergehende nur: „Dann schau dir heute, fast ein Vierteljahrhundert später, doch einfach die Folgen der Verblödung an, zusammen mit den Folgen der Korruption und des allgemeinen politisch-journalistischen Versagens. Dafür benötigt man nur Augen. Der Zerfall ist allgegenwärtig geworden, fraktal an jedem Ort in jeder Größenordnung sichtbar, und nichts davon überrascht mich. Es ist folgerichtig. Man kann es mit den Menschen machen, und sie lassen es mit sich machen. Eventuelle Schmerzempfindungen werden mit legalen Drogen bekämpft, demnächst auch mit Cannabis, dem Futter für das Schaf im Menschen, wenn der bürgerliche oder scheinalternative Gesinnungskitsch nicht mehr ausreicht. Sie laufen als Herde zum Schlachthaus, und beinahe jeder einzelne hat eine triebhafte, dumme Angst, die Herde zu verlassen und eingebildeten Gefahren zum Opfer zu fallen. Die, die heute ‚Nie wieder ist jetzt‘ blöken, wenn sich ihre hochkorrupten Leithammel im feinen Zwirn ans Mikrofon und vor die Kamera stellen, bemerken gar nicht, dass das ‚Nie wieder‘ schon längst und lange vorbei ist. Für seinen Raubzug gegen die Menschen braucht der Kapitalismus, die neufeudalistische Herrschaft der Besitzenden, nur Bild, BamS und Glotze, neuerdings auch um social media für die vielen Telefonstreichler ergänzt, und der viel zu mühelose Kampf richtet sich direkt gegen die Intelligenz und die Freude am Wissen und Erkennen, also gegen alles, was den Menschen ausmacht, wenn er mit Intelligenz und Kultur die schlimmsten Unwägbarkeiten der humor- und erbarmungslosen Natur gezähmt hat. Ich habe kein Problem damit, ein Geisterfahrer zu sein, denn ich sitze nicht im Auto und gefährde niemanden, wenn ich mir nur nehme, was mir kampflos gegeben wird und ansonsten heiter meine Anmerkungen mache. Auf der Straße fahren andere, und jede Heiterkeit geht ihnen ab. In Massen, die glauben, es handele sich dabei um ‚Freiheit‘. Für die Leichen am Rande des Weges ins neue Mittelalter — und das werden noch viele werden — bin ich nicht verantwortlich, und für die bemerkenswerten Wahlergebnisse der blaunen AfD auch nicht. Dafür, dass die Menschen nicht dieses Offensichtliche bemerken, dass es in den zum Hohn als ‚Volksherrschaft‘ bezeichneten Apparaten der Parteienoligarchie überall auf der Welt nur Abschaum nach oben spült, kann ich nichts“.