Wehe euch, ihr Vertreter des religiösen Etablissments, ihr Heuchler, die ihr die Gegenwart Gottes vor den Menschen verschließt! Ihr gelangt nicht in diese Gegenwart, und die hinein wollen, die lasst ihr nicht hineingehen.
Frei nach Jesus aus Nazaret, Mt. 23, 13
Wenn Menschen, die gar nicht recht damit konfrontiert sind, aus der Ferne über den religiösen Fundamentalismus christlicher Ausprägung reflektieren, haben sie dabei oft ein völlig falsches Bild von der wirklichen Erscheinung. Sie stellen sich verbiesterte, weltfremde Menschen vor, die von allen gesellschaftlichen Entwicklungen abgekoppelt sind, etwa wie die Amische in den USA. Sicher, solche Fundis gibt es auch in Deutschland (ich selbst kenne einige). Auch ist die gelegentliche Begegnung mit Mormonen (ich habe gerade keine Lust, von „Anhängern der Kirche Jesu Christi der Heilgen der Letzten Tage“ zu sprechen), Adventisten oder Zeugen Jehovas ein eher irreführendes Bild vom Wesen des moderen evangelikalen Fundamentalismus.
Nein, diese Nachfolger des Judas Iskariot greifen die gesamte Ästhetik der modernen Reklame auf und schreien ihren toten Jesus als Sonderangebot heraus, jetzt für nur noch 29 Silberlinge 95 (vergl. Mt. 26, 15). Wer einmal einen US-amerikanischen Fernsehprediger bei seiner unheiligen Show gesehen hat, weiß, wie schreiend und modern die Verpackung eines längst obsoleten Weltbildes mit seinen restriktiven Forderungen an die Menschen daher kommen kann. Wer keine Gelegenheit hat, einmal einen solchen Jesusverkäufer im Fernsehen zu „genießen“, braucht aber auch nur seine Augen offen zu halten, denn die Begegnung mit dem modern lackierten Fundamentalismus kann sich mitten im Alltag vollziehen.
M. drückte mir heute ein katalogdickes Heft in die Hand, das sie geschenkt bekommen hat. Dieses „Heftchen“ des Gießener Brunnen-Verlages…
…ist nicht etwa eine neue Mädchenzeitschrift, die sich zwischen Wendy und Bravo einordnen soll, dafür wäre es auch viel zu dick. Eben so wenig handelt es sich um einen Versandhauskatalog, der jungen Mädchen Accessoires für den modischen Selbstverkauf als Schluckschlund für männliche Machtansprüche und Ejakulate andrehen will. Es handelt sich um eine Ausgabe des so genannten „Neuen Testamentes“.
Nun, nicht jeder Backfisch wird sich für solche Lektüre wie die synoptischen Evangelien, die oft etwas bekifft wirkenden Schriften der Johannes-Linie, die Paulusbriefe und dem deutlichen Widerspruch zu diesen Briefen im Jakobusbrief oder gar die Offenbarung des Johannes begeistern — obwohl das wirklich anregende Lektüre sein kann, die einem nachhaltig von jeder Form des Christentums bekehrt.
Das wusste man ganz offenbar auch beim Brunnen-Verlage, und so reicherte man den Katalog um viele hippe Bildlein an und platzierte überall im (gut lesbar und groß gedruckten) biblischen Text ein paar kleine Infokästchen zu Themen, von denen die Macher solchen Machwerkes glauben, dass sie den Mädchen wohl unter den Nägeln brennten. Auf der Rückseite wird dieser Katalog zum Verschließen der biblischen Zusammenhänge folgendermaßen angepriesen:
„Words for Girls“: Die Bibel mit Drive! Leicht verständliche Texte aus „Hoffnung für alle“ [Das ist eine moderne Bibelübersetzung]. Modernes Layout im Magazin-Format. Extra-Infos für Herz und Hirn, 400 starke Seiten zum Blättern und Staunen. Hope you`ll enjoy it!
Die verwendete Reklamesprache zeigt schon, wie sehr in den Augen der Herausgeber der Zweck die Mittel heiligt. Und der Zweck ist einfach: Den toten Jesus an heranwachsende Frauen verkaufen, und dabei bloß zusehen, dass das passende Frauenbild mit sexueller Enthaltsamkeit bis zur Ehe, braver und blinder Gläubigkeit, regelmäßigem Beten für die Regierenden dieser Welt und hündischer Unterwürfigkeit gegenüber den Eltern und später einem männlichen Partner gleich mitverkauft wird. Auf über 400 starken Seiten, und ohne mitgelieferte Speischale. Die überall verstreuten Textboxen picken sich hierzu natürlich genau die passenden Themen und Stellen heraus, die als das wörtlichste Wort Gottes verstanden werden — es handelt sich allerdings bevorzugt um ideologische Versatzstücke aus den Paulus-Briefen. Oder, „mädchengerecht“ ausgedrückt auf Seite 174:
Bible Basics
Bibellesen ist nicht so schwierig, wie du vielleicht befürchtest. Du kannst die Bibel als Gottes Liebesbrief an uns Menschen verstehen oder als Bedienungsanleitung fürs Leben oder als FAQ-Buch. Und deshalb lesen sie unglaublich viele Menschen auch mit Begeisterung. Fang an, wo du willst. Lies so viel oder so wenig am Stück, wie du möchtest. Lies sie kreuz und quer oder planmäßig — Hauptsache, du lernst sie kennen. […]
Nun, man mag über diesen „Liebesbrief“ dieses neurotischen „Gottes“ neurotischer Menschen denken, was man will. Mir selbst ist die Vorstellung eines „Gottes“, der über eine einmalige Verfehlung eines einzigen Menschen dermaßen erbost war, dass er darüber einen unauslöschbaren und mörderischen Zorn gegen alle Menschen entwickelte, der sich dann aber selbst in seiner unendlichen Mordlust gegen alle Menschen besänftigte, indem er mit einer Menschenfrau ein Kind zeugte, das stellvertretend für alle Menschen unter großen Qualen sterben musste, so unsympathisch, dass ich, vor die Wahl gestellt, die Gegenwart der viel wärmeren und weniger kranken Gestalten in der Hölle vorzöge. Doch genau dieser Gott wird in den „Liebesbriefen“ des Paulus propagiert, aus denen weit reichende Forderungen an Lebensstil, Moral und Selbstkasteiung an die Menschen herangebracht werden. Deshalb ist es auch die Hauptsache, dass man dieses Buch kennen lerne, denn steter Tropfen höhlt nicht nur Steine, er macht auch kleine Köpflein hohl. Ansonsten liefert eine als wörtliches Wort Gottes verstandene Bibel auch so manchen Anreiz zum Selbsthass, der sehr hilfreich beim Praktizieren einer vorsätzlich dummen Religion ist:
So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser, daß du zum Leben lahm oder als Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das höllische Feuer geworfen.
Jesus aus Nazaret zugeschrieben, Mt. 18, 8
Ich könnte noch etliche Zitate aus diesem Katalog des Irrsinnes geben, der tatsächlich noch schlimmer als der übelste biblizistische Bibelkommentar geraten ist. Aber das ermüdet, und es ist auch davon auszugehen, dass dieser Text eh nicht von denjenigen heranwachsenden Menschen gelesen wird, die ihn eigentlich lesen müssten. Diese sollen eine gute Tochter, eine bücksame Frau, eine glaubende Denkverweigerin sein — da liest man im Netze ganz andere Sachen. Vor allem, wenn man seine Füße unter dem Tisch sogestalt gestrickter Eltern ausstreckt. Das sind die Eltern, die auch für eine anständige Internet-Filterung sorgen, damit nicht ein erwachender Geist den hirnlosen Ungeist verlache. Man ist dort viel moderner, als es für viele Menschen den Anschein hat — und man bildet eine juchzende Parallelgesellschaft, in der Menschenrechte, emanzipatorische Errungenschaften und im Kulturprozess erarbeitete Erkenntnisse keine Rolle spielen.
Es ermüdet, und es ist die Mühe nicht wert.
Aber niemand unterschätze die im Reklamestil dargebotene Kraft psychologischer Muster, die für Jahrtausende nützliche Instrumente einer Herrschaft waren, die eben keine Frauschaft ist. Man muss so etwas so ein bisschen erleben, ein bisschen auch in sich selbst fühlen, um es erst so richtig hassen zu können.
Nachtrag: Und niemand erwarte, dass ausgerechnet die etablierten Kirchen eine Bastion gegen den dumpfen Biblizismus seien — ganz im Gegenteil erblüht dieser Irrsinn mehr als nur geduldet im Schatten dieser Kirchen, als „charismatische Erneuerung“ benannt und im Ringen um fortgesetzten Einfluss immer auch ein bisschen gehätschelt und gepflegt. Denn auch für die etablierten Kirchen heiligt der Zweck die Mittel, und das Bild vom Menschen und seiner Rolle als soziales und sexuelles Wesen ist gar nicht so verschieden.
Die Bibel mit Drive. Das ich das noch erleben darf. Dafür bin ich dankbar.
Ich geh mal beten.
Zu Chris (1): Der „Drive“ sieht denn so aus wie die Box auf Seite 106:
Vor allem das Lesen dieser „Bibel mit Drive“ und vielen kleinen Anmerkungen hilft sehr, diesen oberflächlichen Vergleich mit dem gewünschten Ergebnis durchzuführen.
Oh Herr, lass Hirn vom Himmel regnen!
Heeerlich. Die Auszüge sind schon so klasse, das ich fast in Versuchung komme (Mist, schon wieder beten!) mir das Teil zu kaufen, ey!
Früher was das mit der Bibel 2.0 („Ausführliche Bebilderung für Einsteiger“) ja nur ein Witz. Inzwischen ist der von der Realität einge- und überholt worden.
Demnächst an Ihrem Kiosk: Bibel-der-Frau, Autobibel, Computerbibel, Bibel-am-Sonntag, ADAC Bibelwelt, Biblecar und Biblegirl (von der Konkurrenzsekte), Bibleboobs, Bibelumschau (gratis im Wartezimmer des Hausarztes)
Hab ich was vergessen?
Ob es Zufall ist, dass Bibel und „Bild“ sich phonetisch so ähnlich sind?
Ich behaupte ja: (Glaubens-)Kriege werden nicht um Erdöl, Wasser, Land etc. geführt sondern um den Besitz der Wahrheit™.
Zu Chris (3): Diese Auszüge geben wirklich nur einen Teil des ganzen Wahnsinnes wider. Auf beinahe jeder Seite findet sich etwas, was wegen seines zur Realsatire gewordenen Zynismus zitatwürdig wäre. Ich habe nicht einmal besondere Bonbons ausgewählt, sondern nur „ein bisschen“ geblättert. Ich schlage mal aufs Geratewohl eine Seite auf (und meine das jetzt nicht als Orakel) und zitiere noch so eine Box:
Hier könnte jetzt eine wunderbare Antwort über die generellen Gefahren der Irrationalität und über den Unfug der Astrologie im Speziellen kommen — nur, das geht nicht. Denn sonst würde ein wacherer Geist bemerken, dass die gleichen Argumente auch gegenüber der fundamentalistischen Religion gültig sind, und das kann einfach nicht im Interesse der Macher liegen. (Ich glaube nicht, dass es Macherinnen waren.) Also argumentiert man mit strikt biblizistischer Angstvermittlung, und das klingt dann so:
(Was im Zitat in eckigen Klammern steht, kommt von mir, also bitte nicht denken, das sei ein irgendwie ausgewogenes Buch.)
Nun, man war in der angstbreitenden Beschwörung des fressenden, brennwütigen Feuers so beflissen, dass es sogar die eigenen Bibelkenntnisse ein bisschen verbrannt hat — denn Jesaja spricht hier über den bevorstehenden Untergang Babels und über eine Vielzahl dort geübter, magischer Praktiken, was — wie der gesamte Jesaja — eine recht interessante Schrift voller (antiker) politischer und wirtschaftlicher Kritik ist, die manchmal sogar dazu verleitet, sie auf die jetzigen Zustände zu übertragen. Daraus wird dann mal eben der eine Halbsatz mit dem Feuer und mit der Todesgefahr gepickt und als allgemein gültige, göttliche Wahrheit™ verkauft.
Und genau so ist der Rest der biblizistischen „Argumentation“ auch. Wer mir nicht glaubt und einen robusten Magen hat, kann sich gern selbst überzeugen — der Brunnen-Verlag ist ja im Artikel verlinkt. 😉
Und nein, dies ist kein naives Traktat der Zeugen Jehovas, sondern ein Ausfluss jenes Mainstream-Christentums, der hier auch noch mit staatlicher Geldeintreiberei gefördert und vom Religionsunterricht in der Zwangsbeschulung gefordert wird, scheiß auf die grundgesetzliche Trennung von Staat und Kirche!
Erstell doch mal „Marx for girls“ 😀
Zu marcel (6): psst! Nicht so laut, sonst hört das noch ein Verleger…
In einem „Marx für Mädchen“ könnten die Infoboxen etwa so aussehen:
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Es gibt nun einmal unterschiedliche Menschen, das kommt daher, ob man reich oder arm geboren wurde. Du wirst wahrscheinlich einmal für Lohn arbeiten müssen, denn deine Arbeitskraft ist der einzige Besitz, den du hast. Deine Arbeitskraft stellst du dem Menschen zur Verfügung, der Produktionsanlagen hat. Da verwandelst du Materialien aller Art mit deiner Arbeitskraft in höherwertige Produkte, und der Kapitalist gibt dir dafür etwas Geld. Natürlich nicht so viel, wie du Werte schaffst, denn er möchte ja auch seinen Profit haben. Das ist der Mehrwert.
Wenn du meinst, dass wegen dieser Differenz zwischen dem Mehrwert und den Entlohnungen für deine Arbeit ein gewisser Anteil deiner Arbeit gar nicht bezahlt wird, denn siehst du das genau wie Karl Marx. Er sprach davon, dass die kapitalistische Weise der Gütererzeugung auf der Aneignung unbezahlter Arbeit durch die Kapitalisten beruht, und er nannte dies die Ausbeutung des Arbeiters.
Weil die Kapitalisten den Mehrwert verwenden können, kommt es zu einer zunehmenden Vergrößerung des gesamten Apparates der Produktion. Das sind Häuser, Maschinen, Grundstücke und alles andere, was für die Güterproduktion gebraucht wird. Da die Produktion dabei mit immer größerer Effizienz durchgeführt wird, da immer weniger Arbeiter zur Erstellung der Produkte benötigt werden, werden immer mehr Menschen arbeitslos. Diese Menschen, die Marx sogar einmal die „industrielle Reservearmee“ nannte, verursacht ein Überangebot an Arbeitskraft. Dies führt zu einem ständigen Druck auf den Arbeitsmarkt und letztlich zu Lohndumping und allgemeiner Verelendung der Arbeiter. Während dies geschieht, kommt es aber auch zu einer ständigen Anhäufung von Kapital bei einer immer geringeren Anzahl von Kapitalisten.
Die Möglichkeiten zur Produktion werden also ständig erhöht, die Fähigkeit der ausgebeuteten Massen zum Kauf und Konsum dieser Produkte werden auf der anderen Seite ständig gesenkt. Deshalb entstehen Krisen, die sich immer mehr verschärfen. Das führt zwangsläufig zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systemes.
Und morgen erkläre ich dir die Revolution…
Wenn du nicht gerade lieber irgendwelche Geschichten von Pferden und Barbie-Puppen lesen willst. 😉
[snap]
Ich hoffe, dass sich den Marx-Freunden unter meinen Lesern nicht irgendetwas im Magen umgedreht hat — aber ich glaube, dass ich die Kernpunkte der Marxschen Analyse des Kapitalismus wirklich zutreffend zusammengefasst habe. Bitte jeden Tag mit den Nachrichten vergleichen…
Zu cassiel (4): Ja Cassiel, Du hast etwas vergessen. Wenn ich daran erinnern darf: „Schöner morden mit der Bibel.“
http://www.unmoralische.de/morden.htm
„Jungs reden über eine Tonne wichtiger Themen.“
So ein schöner Satz! Bisher war mir die Tonne als Maßeinheit für Themen nicht bekannt. Ist der Satz allquantifiziert? Für alle x gilt: Wenn x ein Junge ist, so redet er über eine Tonne wichtiger Themen. Oder existiert mindestens ein x, so daß x zwar ein Junge ist, aber trotzdem nicht über eine Tonne wichtiger Themen redet.
Es gibt auch ein „Words for Boys“. Es stehen einige Typen (zum Teil mit Mütze) und muffiger Miene auf dem Cover. Von der Tonne ist keine Rede. Schade, sie trägt seit Diogenes eine philophische Konnotation.
Und es sollte natürlich „philosophisch“ heißen.