Die meisten Menschen verwechseln das Wesen der Sucht mit einer Form der Abhängigkeit. Und sie glauben aufgrund dieser Verwechslung, dass zur Behandlung einer krankhaften, leidvollen und wenig lebensförderlichen Sucht die Abhängigkeit aufgehoben werden müsse. Dieser falsche Glaube ist der Grund für das Scheitern so vieler Ansätze in der Therapie der Sucht oder für den ebenfalls recht häufigen, nur scheinbaren und sehr vorübergehenden „Erfolg“ solcher Ansätze, der sich dann beim Hinschauen als der bloße Austausch des einen Suchtmittels gegen ein anderes Suchtmittel entpuppt.
Abhängigkeit an sich ist eine gewöhnliche Bedingung des Seins. Schon auf plumper, physischer Ebene ist das Dasein eines Menschen von einem Geflecht von Abhängigkeiten geprägt, er muss essen, trinken, atmen. Kaum jemand würde diese Abhängigkeiten als etwas „Krankes“ empfinden, so sehr sie auch Ursache tiefer, existenzieller Probleme werden können. Für ein soziales, denkendes und fühlendes Wesen kommen zu diesen selbstverständlichen und physischen Abhängigkeiten noch eine ganze Menge weiterer, oft gleichermaßen komplexer wie unnatürlicher Abhängigkeiten psychischer Natur hinzu, die einem ganzen Leben ihren Stempel aufdrücken, ja, sogar zur alles einschränkenden Bedingung des Lebens werden können. Ganz im Gegensatz zur falschen Auffassung des Wesens der Sucht als einer Form der Abhängigkeit handelt es sich bei jedem Streben nach „Unabhängigkeit“ um ein Haschen nach Dunst, um die Jagd nach einer Illusion. Es gibt kein Sein in Unabhängigkeit, nicht einmal für einen Stein oder ein Sandkorn, und noch viel weniger für einen Menschen.
Auch widerspricht es der Auffassung der Sucht als eine Form der Abhängigkeit, dass es so viele Süchte gibt, die alle Erscheinungsformen der Sucht in sich tragen können, ohne dass man dabei von einer Abhängigkeit sprechen könnte. Vielleicht das einleuchtendste Beispiel hierfür ist die Spielsucht. Der suchtartig „Spielende“ ist nicht mit einer besonderen Abhängigkeit ausgestattet, und dennoch ist sein Leben und Denken so sehr von dem einen Suchtmittel „Spiel“ geprägt, dass der süchtige Mensch den Anforderungen des Lebens als ein praktisch Untauglicher gegenübertreten kann. (Mir missfällt übrigens das Wort „Spielen“ in diesem Zusammenhang, da es die allzu harmlose Konnotation einer nur kindischen und damit auch einer entspannenden Betätigung hat; ich würde von daher lieber im deutlichen Soziolekt des Proletariats vom „Zocken“ sprechen. Leider hat die deutsche Hochsprache kein Wort hervorgebracht, um diesen Unterschied zwischen Spiel und „Spiel“ auszudrücken, wiewohl es gerade dem Deutschen sonst nicht an Schärfe mangelt. Wer auch nur einen Spielsüchtigen kennengelernt hat, der weiß aus dieser Erfahrung, dass dieses „Spiel“ weder spielerisch, noch kindisch und schon gar nicht entspannend ist.)
Sucht ist in ihrem Wesen keine besondere Form der Abhängigkeit — obwohl sie häufig in eine zusätzliche stoffliche Abhängigkeit führt, die wiederum ein Problem für sich werden kann — sondern eine Verhaltensweise. Es hilft deshalb beim Denken über die Erscheinungen der Sucht, wenn man vom „Suchtverhalten“ spricht und versucht, dieses Verhalten so genau wie möglich zu fassen.
Welche sind nun aber die Eigentümlichkeiten des Suchtverhaltens?
Der süchtig Siechende verwendet Etwas, ein so genanntes Suchtmittel, um damit seine Aufmerksamkeit für die Erscheinungen der Welt zu reduzieren. Es ist möglich, alle hierzu verwendeten Suchtmittel in eine von drei Kategorien einzuteilen. Die ersten beiden dieser Kategorien würde man im herkömmlichen Sinne des Wortes als „Drogen“ bezeichnen, die dritte Kategorie umfasst Suchtmittel, die nicht zu den Drogen gehören, aber dennoch bei einigen Menschen ein voll ausgeprägtes Suchtverhalten hervorrufen können — diese dritte Kategorie ist beim Versuch des Verständnisses der Sucht zunächst dunkel, führt aber am Schnellsten zum Kern des Suchtproblemes, da sie die konventionellen Irrwege des Denkens über die Sucht versperrt.
In die erste Kategorie fallen die „klassischen“ Betäubungsmittel, die zu einer allgemeinen Herabsetzung der Aufmerksamkeit führen, indem sie das Bewusstsein abdämpfen und in einen schlummrigen, den Schlafe verwandten Zustand versetzen. Die althergebrachten Opiate haben hier in jüngerer Zeit eine starke Konkurrenz durch so manches Psychopharmakon bekommen, das auch recht bereitwillig von Ärzten verordnet wird und dabei eine langfristige Geschäftsbeziehung zu einem Patienten herstellt. Wenn man in den Statistiken über die Verwendung von Drogen auch all jene Menschen aufnehmen würde, die keinen Tag ohne zentraldämpfende Mittel mehr leben, denn sähen diese Zahlen gewiss erschreckend aus und würden jedem zur Einsicht verhelfen können, dass Sucht das schlechthinnige gesellschaftliche Problem der gegenwärtigen Zeit ist. Leider wird hier regelmäßig mit zweierlei Maß gemessen, und die Verordnungen der Dealer in Weiß bekommen nicht das Urteil, das sie allzu oft verdienten.
Die zweite Kategorie ist mit der ersten verwandt, jedoch ist hier die Wirkung der Suchtmittel eine qualitativ andere. Diese Mittel leiten die Aufmerksamkeit von der Umwelt ab, indem sie einen erheblichen Betrag der Aufmerksamkeit in individuelle psychische Prozesse leiten, die auf diese Weise eine scheinbare Unabhängigkeit von den Bedingungen der Außenwelt erhalten. Es sind dieses die Suchtmittel von eher halluzinogener Wirkung, denen gemein ist, dass sie zu einer Veränderung in der cerebralen Verarbeitung des Wahrgenommenen führen. In diese Kategorie fallen keineswegs nur „harte“ Halluzinogene wie LSD, sondern auch das zur heimlichen Volksdroge gewordene THC.
Die genaue Abgrenzung dieser ersten beiden Kategorien von Suchtmitteln ist in einigen Fällen schwierig. THC hat neben seiner eher geringen (aber doch immer noch beachtlichen) halluzinogenen Wirkung eine deutlich betäubende Wirkung, wird aber eher wegen seines Effektes auf die Wahrnehmung genommen. Bei der außerordentlich beliebten Droge Alkohol, die auch dementsprechend häufig zum Suchtmittel wird, tritt der Effekt der Herabsetzung der Aufmerksamkeit fast gleichberechtigt neben leichten Veränderungen der Wahrnehmung, die sich dem Konsumenten darin mitteilen, dass ihm seine akuten Lebensumstände hübscher, weniger bedrückend, erfreulicher anmuten, was seine Verzagtheit und seinen Unwillen gegenüber diesen Umständen reduziert.
Die dritte Kategorie von Suchtmitteln ist die zunächst dunkle. Sie umfasst keine Drogen im üblichen Sinn des Wortes, sondern reine Verhaltensweisen, wie etwa das suchtartige „Spielen“ (in jüngerer Zeit auch häufig im Zusammenhang mit Computern im Gespräch), das suchtartige Essen und andere Betätigungen, die mit einer fressenden, zerstörerischen Hingabe getan werden und darin alle Erscheinungsformen der Sucht zeigen. Tatsächlich zeigt eine genauere Betrachtung, dass auch hier die Aufmerksamkeit von der Umwelt abgeleitet wird; und zwar geschieht dies, indem der Süchtige seine Aufmerksamkeit mit einem hohen Maß an Konzentration auf einen kleinen Ausschnitt der Umwelt ausrichtet und für den Rest der Umwelt auf diese Weise beschränkt. So betrachtet, wirkt eine Sucht, die sich solcher Suchtmittel bedient, wie eine Karikatur der Meditation. Und. Mag damit auch andeuten, was Menschen ganz allgemein zum Meditieren bringt und welchen Gewinn sie davon haben. (Wie wenig die „spirituellen“ Ausflüchte der Süchtigen taugen, wird im Folgenden vielleicht noch ein wenig deutlicher, obwohl es nicht mein Thema ist.)
Am Ende dieser viel zu kurzen Würdigung der Suchtmittel muss noch angemerkt werden, dass die Sucht nicht in ihren Mitteln liegt, sondern in der Weise, wie sich der Süchtige in seinem Siechtum dieser Mittel bedient. Die Sucht ist unabhängig vom verwendeten Suchtmittel und hat mit diesem eine eher lockere Verbindung.
Das Suchtverhalten ist also eine regelmäßig und willentlich herbeigeführte Herabsetzung der Aufmerksamkeit für die Erscheinungen der Wirklichkeit. Diese Haltung kann bis zum völligen Realitätsverlust gehen.
Warum sollte ein Mensch so etwas tun? Welchen Gewinn hat der Süchtige von seinem Suchtverhalten? Denn. Ohne einen Gewinn täte er es nicht; brächte solches Tun nur das selbst dem Süchtigen unübersehbare Leid, so hörte das Verhalten schnell auf. Niemand würde sich mehrmals nacheinander mit einem Hammer auf die Hand hauen, wenn er nicht einen persönlichen Vorteil aus dieser Selbstzerstörung zöge.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das bedeutet, dass er ein angeborenes und triebhaftes Verlangen hat, einen Platz innerhalb eines sozialen Gefüges anderer Menschen einzunehmen. Die besondere Ausstattung des Menschen im darwinschen Ringen um Lebensraum war nicht individuelle Stärke, sondern kollektiv sinnvolles Handeln einsichtsfähiger Individuen. Der besonders ausgeprägte soziale Zug des Menschen zeigt sich vielleicht am deutlichsten in seiner sprachlichen Befähigung, die weit über alles im sonstigen Tierreiche beobachtbare Signalgeben hinausgeht und die es jedem Einzelnen ermöglicht, einen gut differenzierten Anteil an der Ausgestaltung der gemeinsamen Sache zu nehmen, so dass sich alle Individuen darin wiederfinden können.
Das Triebhafte am sozialen Sein des Menschen kann gar nicht unterschätzt werden. Es handelt sich um einen Trieb, der stärker als das ebenfalls triebhafte Verlangen nach der Erhaltung des eigenen Seins ist. Wäre der Sozialtrieb nicht stärker als der Trieb zur Selbsterhaltung, so könnten Kriege nicht funktionieren, da jeder bestrebt wäre, sein eigenes Leben zu retten.
Aus dem Sozialtrieb erwächst nun etwas Besonderes, was ebenfalls mit der gebieterischen Wucht dieses Triebes ausgestattet ist. Es ist das fordernde Gefühl der Verantwortung für die gemeinsam gestaltete Sache, das sich bei jeder Erscheinung in der Umwelt regen kann.
Wer Suchtverhalten zeigt, senkt seine Aufmerksamkeit für die Umwelt herab, um das aus dem Sozialtrieb heraus entstehende Gefühl der Verantwortung mitsamt allen seinen Forderungen an den Menschen zu unterdrücken. Sucht ist ein krankhaftes Verhalten gegenüber der eigenen sozialen Verantwortung. Unter gesellschaftlichen Umständen, die dem Einzelnen fast keinen Spielraum mehr geben, an der Gestaltung einer gemeinsamen Sache verantwortlichen Anteil zu nehmen, muss Sucht zwangsläufig zu einer Volkskrankheit werden. Die Zerstörung der eigenen Wahrnehmung und damit des eigenen gestalterischen Potenziales im Suchtverhalten ist das Spiegelbild der individuellen Ohnmacht gegenüber einem Prozess, der über die Gesellschaft abläuft und dem die Einzelnen in der Gesellschaft ausgeliefert sind.
Es ist übrigens auf diesem Hintergrunde kein Zufall, dass jede Sucht selbstzerstörerisch ist. Niemand wird süchtig nach so etwas harmlosem und unschädlichem wie dem Essen von Radieschen. Der Verlust der Kraft (und im Falle des weiter oben benannten Spielsüchtigen: der Kaufkraft des verlorenen Geldes), der gedanklichen Leistungsfähigkeit, der Gesundheit und sogar des Lebens sind keineswegs unerwünschte Begleiterscheinungen eines süchtigen „Genusses“, sondern sie dienen dem gleichen Ziel wie das Suchtverhalten. Niemand hat weniger Verantwortung als eine Leiche.
Mit fröhlichen Grüßen an die Kamerun News